MODUL 1: Kommunikation online
1. Case → 2. Insight → 3. Case → 4. Insight → 5. Deep Lecture
Alles unter Kontrolle?
von Simon Noack und Stephan Frühwirt
Mit der Verbreitung des mobilen Internets hat die Bedeutung dieses neuen Leitmediums seit der Entwicklung des Web 2.0 noch einmal neue Dimensionen erreicht. Im Grunde gibt es heute kein Offline mehr, weil der Zugriff auf das Web von überall aus möglich ist oder doch bald sein wird. Jederzeit, egal wo, tippen und wischen Menschen an ihren Geräten herum und die Frage, ob man sich ein Leben ohne Internet vorstellen könnte, stellt sich längst nicht mehr. Vor allem durch extrem niedrige Kosten verändert Online-Kommunikation die Gesellschaft in allen Bereichen, ganz gleich ob privater oder professioneller Art.
Vor der Jahrtausendwende verbanden sich mit diesen Veränderungen zwei gegensätzliche Szenarien: Während die Kulturpessimisten prophezeiten, das Internet werde zwischenmenschliche Beziehungen radikal zerstören, feierten es die Enthusiasten als Medium einer langersehnten freiheitlichen Gesellschaft. Beide Prognosen haben sich als zu pauschal erwiesen, aktuelle Ansätze betrachten das Medium deutlich differenzierter.
Wie im Fall der Schrift handelt es sich beim Internet um Telekommunikation, durch die natürliche Einschränkungen von Zeit und Raum in den Hintergrund treten. So kann man in Asien augenblicklich auf das reagieren, was in Amerika online gestellt wurde – unabhängig von tausenden Kilometern und mehreren Zeitzonen dazwischen. Zugleich ist das Internet ein Massenmedium wie der Buchdruck, mit dem man sich nicht an wenige Adressaten richtet, sondern, wenn man will, an unbegrenzt viele.
Bereits die klassischen Massenmedien haben im Vergleich zu mündlicher Kommunikation die Kommunikationskosten gesenkt und die Erreichbarkeit über den Kreis der Anwesenden hinaus stark erweitert. Dennoch ist der Aufwand für die Produktion von Druckerzeugnissen oder Rundfunksendungen noch immer so hoch, dass nicht alles, was kommuniziert werden könnte, tatsächlich auch kommuniziert wird. Es muss thematisch klar selektiert werden und ein Großteil aller möglichen Beiträge bleibt deshalb unveröffentlicht. Dies ändert sich mit dem Internet und lässt sich in Foren, Chatrooms, sozialen Netzwerken und auf Blogs sehr gut ablesen: Publiziert wird, was die wenigen Sekunden des damit verbundenen Aufwands wert ist. Dass dies auch vielfach Trivialkommunikation einschließt, versteht sich von selbst. Unterhaltungen über Nebensächliches gab es indes auch schon immer, nur haben sie den Bereich des mündlichen Gesprächs bisher nicht verlassen. Dieser Long Tail der Kommunikation ist nun sichtbar.
Post: steinis_welt, Quelle
Und in der Tat: Dass „steinis_welt” Erbsensuppe gegessen hat und nun zufrieden auf der Couch sitzt, mag auf den ersten Blick nicht unbedingt als relevant erscheinen, kann aber über Twitter und Instagram ohne Weiteres 100 und mehr Follower interessieren. Was in einem gedruckten Buch nicht stehen könnte, weil das Verhältnis zwischen Druckkosten und Kommunikationsnutzen dies nicht zulässt, ist im Internet allgegenwärtig. Rand- und Nischenbereiche – ganz gleich ob es sich um das Mittagessen, Verschwörungstheorien oder gesammeltes Laienwissen handelt –, finden im Netz millionen‑, ja milliardenfach ihren Platz. In ihrer Gesamtheit überwiegt diese Nischenkommunikation bei Weitem die Auseinandersetzung mit den großen Themen der Weltöffentlichkeit. Damit hat sich das generelle Kommunikationspotential global enorm vervielfacht.
Dabei darf man jedoch nicht davon ausgehen, dass allen Beiträgen gleichermaßen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn in Bezug auf Reichweite und Wahrnehmung besteht online zwar Chancen‑, aber nicht auch Ergebnisgleichheit. Stattdessen dominiert das Pareto-Prinzip, nach dem der Großteil (80 Prozent) aller Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema lediglich wenigen (20 Prozent) Beiträgen zu diesem Thema zukommt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten Matthäus-Effekt, der die Tatsache bezeichnet, dass schon kleine anfängliche Abweichungen durch Verstärkung zu sehr großen Unterschieden werden können: Wer hat, dem wird gegeben.
Die Schlüsselrolle kommt dabei nicht dem Absender einer Mitteilung, sondern jedem einzelnen Internetnutzer und seiner persönlichen Entscheidung zu. Erst seine Aktionen – kommentieren, empfehlen und verlinken – sorgen dafür, dass sich Informationen, die in seinen Augen interessant, kurios, lustig oder skandalös, also sticky, sind, massenhaft verbreiten oder eben auch nicht. Auf diese Weise kommt es im Netz zu extremen Ungleichverteilungen und das in allen Bereichen des Long Tails, sodass sich zu jedem Thema bestimmte Personen oder Organisationen als Big Player positionieren können. Ein Beispiel hierzu stellt das virale Marketing dar: Der spektakuläre Erfolg mancher Online-Kampagnen ist nur deshalb so enorm, weil zugleich sehr viele Maßnahmen konkurrierender Unternehmen überhaupt nicht oder nur am Rande wahrgenommen werden.
Aus den gesunkenen Kosten ergibt sich neben der beinahe unendlichen Fülle publizierter Themen und Beiträge zudem noch ein zweites Merkmal des Internets: Es zeichnet sich durch eine interaktive Grundstruktur aus. Über Massenmedien können andere nur durch One-Way-Kommunikation erreicht werden, haben also nicht die Möglichkeit, Feedback zu geben. Sicher können Leser Briefe an Redaktionen schreiben und Zuschauer an Call-in-Shows teilnehmen. Aber dies bleiben stets Einzelfälle, der größte Teil des Publikums muss schweigen. Jede Reaktion müsste ja wiederum als Zeitung gedruckt oder als Sendung ausgestrahlt werden und würde deshalb das Kostenproblem exponentiell vervielfachen.
Im Internet hingegen kann nicht nur jeder zu jedem Thema Beiträge verfassen, sondern auch auf jeden Beitrag antworten. Dadurch werden sämtliche Reaktionen sichtbar und geben den Teilnehmern wichtige Hinweise darüber, welche Erwartungen seitens der übrigen Beteiligten bestehen. Es wird so auch direkt deutlich, ob eine Kommunikation erfolgreich war oder nicht. Dieser Umstand ist jedoch nicht immer erfreulich, vor allem dann nicht, wenn der Betreffende sich noch in den vermeintlichen Erfolgssicherheiten massenmedialer Kommunikation wiegt – und im Leben nicht damit rechnet, dass ein verschenktes Album zu einem Sturm der Entrüstung führen könnte.
Aufgrund der Ungleichverteilung der Aufmerksamkeit und der Sichtbarkeit des Feedbacks müssen allzu einfache Vorstellungen der Kontrollierbarkeit von Kommunikation im Internet aufgegeben werden. Die klassischen Massenmedien legten durch ihre Struktur bisher gewisse Erwartungen an Reichweite und Akzeptanz nahe, weil Druckerzeugnisse und Rundfunksendungen im Normalfall eine relativ große Anzahl an Empfängern erreichen konnten, deren Feedback unzugänglich blieb. Man wusste nicht, wie das Publikum auf Mitteilungen reagierte und konnte gerade deshalb von der beabsichtigten Wirkung ausgehen. In der kommunikativen Wirklichkeit des Internets erweisen sich solche Erwartungen jedoch offensichtlich als unzutreffend. Dies machen Beispiele wie das Doog Poop-Girl oder das von iTunes verschenkte U2-Album deutlich. Die Komplexität der Kommunikationsumgebung ist sichtbar geworden. Damit steigen auch die Anforderungen. Und die daraus sich ergebenen Unsicherheiten betreffen Amateure und Profis gleichermaßen.
Das heißt jedoch nicht, dass es keine Orientierungspunkte mehr geben würde. Es finden sich durchaus ganz wesentliche Forschungsergebnisse zu vielen Aspekten von Online-Kommunikation, mit deren Hilfe Entscheidungen getroffen und begründet werden können. Wer mehr über Themen wie Selbstdarstellung, Storytelling und Konfliktbewältigung in Social Media weiß, kann Probleme vorausschauender identifizieren, Aufgaben kompetenter bewältigen und in Stresssituationen auf ein solides Fundament bauen. Deshalb werden in den folgenden Modulen die wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kommunikation in Social Media verständlich und praxisbezogen aufbereitet.