Iden­ti­tät ris­kie­ren – #weil­wir­dich­lie­ben2019-02-12T12:06:43+02:00

MO­DUL 2: Iden­ti­tät ris­kie­ren

1. Case      2. In­sight     3. Deep Lec­tu­re

#weil­wir­dich­lie­ben

Foto: ve­gas­world, Quel­le, Li­zenz: CC BY-SA 4.0    

Mit ei­ner um­fang­rei­chen So­ci­al-Me­dia-Kam­pa­gne will die Ber­li­ner Ver­kehrs­ge­sell­schaft im Ja­nu­ar 2015 ihr an­ge­schla­ge­nes Image auf­po­lie­ren. Da­für er­klärt sie ih­ren Fahr­gäs­ten kur­zer­hand auf al­len Ka­nä­len die Lie­be. Doch die­ses Ge­fühl scheint nicht auf Ge­gen­sei­tig­keit zu be­ru­hen.

von Si­mon Noack und Ste­phan Früh­wirt

Kam­pa­gnen­start

Am 15. Ja­nu­ar 2015 star­tet die Ber­li­ner Ver­kehrs­ge­sell­schaft eine groß­an­ge­leg­te Image-Kam­pa­gne. Dem Frust über Ti­cket­prei­se und Zug­ver­spä­tun­gen will die BVG mit ei­ner Lie­bes­of­fen­si­ve ent­ge­gen­wir­ken. Dazu of­fen­ba­ren Pla­ka­te und Auf­kle­ber an al­len Bus­hal­te­stel­len und U‑Bahnhöfen die un­ein­ge­schränk­te Zu­nei­gung zu je­dem Fahr­gast: “Wir freu­en uns je­den Mor­gen auf dich” – “Nicht mal dei­ne Mud­da holt dich mor­gens um 4:30 Uhr ab” – “Wir wür­den dich am liebs­ten ein­stel­len”. Im­mer da­bei: Das Kam­pa­gnen-Hash­tag #weil­wir­dich­lie­ben.

Auch die Kun­den sol­len ih­rer­seits Lie­be be­kun­den. Dazu wer­den sie bei Twit­ter auf­ge­ru­fen, ihre per­sön­li­chen BVG-Mo­men­te aus dem Ver­kehrsall­tag zu twit­tern und mit dem Kam­pa­gnen-Hash­tag #weil­wir­dich­lie­ben zu ver­se­hen. So soll ein Can­dy­s­torm ent­ste­hen, der das Image der BVG mit Zu­cker­guss gla­siert.

Ein Shit­s­torm bricht los

Die Re­ak­tio­nen sind über­wäl­ti­gend: Über 16.000 Tweets wer­den in den ers­ten vier Wo­chen un­ter dem Hash­tag #weil­wir­dich­lie­ben ver­öf­fent­licht. Al­ler­dings spru­deln die­se nicht ge­ra­de über vor Zu­nei­gung und Hin­ga­be. Im Ge­gen­teil, der Groß­teil ent­hält kla­re Kri­tik, schar­fen Sar­kas­mus oder ag­gres­si­ve An­fein­dun­gen: Fahr­preis­er­hö­hun­gen, die kei­ner ver­steht, U‑Bahnen, die im­mer zum fal­schen Zeit­punkt ver­spä­tet sind oder un­freund­li­che Bus­fah­rer, die man nur fragt, wenn man eine wirk­lich di­cke Haut hat – die Lis­te der Grün­de ist lang, wes­halb sich die Fahr­gäs­te schwer mit der Lie­be tun. Nicht ein­mal für eine klei­ne Schwär­me­rei reicht es of­fen­sicht­lich. So ge­rät das Hash­tag zum “Bash­tag” und an­statt ei­nes Can­dy­s­torms braut sich ein ernst­zu­neh­men­der Shit­s­torm zu­sam­men.

Die Re­ak­ti­on der BVG

Und die BVG? Hält sich an ih­rer Lie­be fest und tur­telt wei­ter. Ob­wohl die Em­pö­rungs­wel­le so schnell an­wächst, dass schon am ers­ten Tag nach Kam­pa­gnen­start die Mas­sen­me­di­en das The­ma auf­grei­fen, wird die Lie­bes­er­klä­rung nicht zu­rück­ge­nom­men. Die Kam­pa­gne läuft wei­ter. Denn was sind schon ein paar tau­send Kör­be?

An­statt sich trau­rig in Selbst­mit­leid zu ver­krie­chen, re­agie­ren die So­ci­al-Me­dia-Be­treu­er nach ei­ni­ger Zeit so­gar mit Hu­mor und Ber­li­ner Schnau­ze. Auf be­son­ders kri­ti­sche Bei­trä­ge wird selbst­be­wusst ge­ant­wor­tet – wenn du mich nicht willst, dann such’ dir doch ne an­de­re. Zu­gleich gibt man sich fa­cet­ten­reich, sym­pa­thisch, un­ter­halt­sam. Mit ta­ges­ak­tu­el­lem Con­tent auf Twit­ter, Face­book und In­sta­gram, Mo­ment­auf­nah­men, Me­mes und In­fo­gra­fi­ken zeigt man sich von sei­ner at­trak­ti­ven Scho­ko­la­den­sei­te.

Post: BVG_​Kampagne, Quel­le

Nach ei­ni­gen Mo­na­ten

Nach ei­ni­gen Mo­na­ten lässt der Shit­s­torm nach. Die Kam­pa­gne läuft wei­ter und ne­ben den im­mer noch zahl­rei­chen kri­ti­schen Tweets fin­det sich im­mer wie­der auch die ein oder an­de­re An­ek­do­te ei­nes wohl­wol­len­den Fahr­gas­tes. Für ihre selbst­iro­ni­schen Bei­trä­ge und fre­chen Ant­wor­ten er­hält die BVG mitt­ler­wei­le so­gar Ap­plaus von der So­ci­al-Me­dia-Ge­mein­de.

Die Bi­lanz knapp ein Jahr nach Kam­pa­gnen­be­ginn: Über 33.000 Fans bei Face­book, über 10.000 Fol­lo­wer bei Twit­ter, bis zu 100 Tweets am Tag zum The­ma #weil­wir­dich­lie­ben — und jede Men­ge Tough Love.

Wei­ter zum In­sight