MODUL 2: Identität riskieren
1. Case → 2. Insight → 3. Deep Lecture
#weilwirdichlieben
Foto: vegasworld, Quelle, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Mit einer umfangreichen Social-Media-Kampagne will die Berliner Verkehrsgesellschaft im Januar 2015 ihr angeschlagenes Image aufpolieren. Dafür erklärt sie ihren Fahrgästen kurzerhand auf allen Kanälen die Liebe. Doch dieses Gefühl scheint nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
von Simon Noack und Stephan Frühwirt
Kampagnenstart
Am 15. Januar 2015 startet die Berliner Verkehrsgesellschaft eine großangelegte Image-Kampagne. Dem Frust über Ticketpreise und Zugverspätungen will die BVG mit einer Liebesoffensive entgegenwirken. Dazu offenbaren Plakate und Aufkleber an allen Bushaltestellen und U‑Bahnhöfen die uneingeschränkte Zuneigung zu jedem Fahrgast: “Wir freuen uns jeden Morgen auf dich” – “Nicht mal deine Mudda holt dich morgens um 4:30 Uhr ab” – “Wir würden dich am liebsten einstellen”. Immer dabei: Das Kampagnen-Hashtag #weilwirdichlieben.
Auch die Kunden sollen ihrerseits Liebe bekunden. Dazu werden sie bei Twitter aufgerufen, ihre persönlichen BVG-Momente aus dem Verkehrsalltag zu twittern und mit dem Kampagnen-Hashtag #weilwirdichlieben zu versehen. So soll ein Candystorm entstehen, der das Image der BVG mit Zuckerguss glasiert.
Hallo Berlin! Wir eröffnen hiermit unseren #weilwirdichlieben-Account. Mit Herz und Hashtag. Einsteigen bitte! pic.twitter.com/lsusIi7E91
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 12. Januar 2015
Ein Shitstorm bricht los
Die Reaktionen sind überwältigend: Über 16.000 Tweets werden in den ersten vier Wochen unter dem Hashtag #weilwirdichlieben veröffentlicht. Allerdings sprudeln diese nicht gerade über vor Zuneigung und Hingabe. Im Gegenteil, der Großteil enthält klare Kritik, scharfen Sarkasmus oder aggressive Anfeindungen: Fahrpreiserhöhungen, die keiner versteht, U‑Bahnen, die immer zum falschen Zeitpunkt verspätet sind oder unfreundliche Busfahrer, die man nur fragt, wenn man eine wirklich dicke Haut hat – die Liste der Gründe ist lang, weshalb sich die Fahrgäste schwer mit der Liebe tun. Nicht einmal für eine kleine Schwärmerei reicht es offensichtlich. So gerät das Hashtag zum “Bashtag” und anstatt eines Candystorms braut sich ein ernstzunehmender Shitstorm zusammen.
#weilwirdichlieben haben wir im Januar für dich die Fahrpreise erhöht 3
ach liebe BVG, ob ihr euch mit dieser kampagne nen gefallen tut 😉
— Gregor Pittke (@WetterFroschBln) 13. Januar 2015
#weilwirdichlieben funktionieren die tram Anzeigetafeln regelmäßig nicht
— Marci POP (@kweenMarci) 13. Januar 2015
Nicht #weilwirdichlieben kaufen wirn überteuertes #Monatsticket sondern #weilwirzurarbeitmüssen!
— Tobi Pfalzgraff (@Pflzgrff) 13. Januar 2015
Aus dem Bus geschmissen werden, weil die Lesegeräte für die elektronische »FahrCard« nicht funktionieren. BVG – #weilwirdichlieben ♥
— Nik Stohn (@nikstohn) 13. Januar 2015
#weilwirdichlieben bieten wir in der Straßenbahn keine Kleingruppenkarte am Automaten an.
— Logital (@Logital) 13. Januar 2015
#weilwirdichlieben eher nicht
— Max (@Demelium) 13. Januar 2015
Die Reaktion der BVG
Und die BVG? Hält sich an ihrer Liebe fest und turtelt weiter. Obwohl die Empörungswelle so schnell anwächst, dass schon am ersten Tag nach Kampagnenstart die Massenmedien das Thema aufgreifen, wird die Liebeserklärung nicht zurückgenommen. Die Kampagne läuft weiter. Denn was sind schon ein paar tausend Körbe?
Guten Morgen, Berlin! Schlechte Nachrichten für alle Twitterer: Wir lieben euch noch immer 😉
Kommt gut durch den Tag!
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 14. Januar 2015
Anstatt sich traurig in Selbstmitleid zu verkriechen, reagieren die Social-Media-Betreuer nach einiger Zeit sogar mit Humor und Berliner Schnauze. Auf besonders kritische Beiträge wird selbstbewusst geantwortet – wenn du mich nicht willst, dann such’ dir doch ne andere. Zugleich gibt man sich facettenreich, sympathisch, unterhaltsam. Mit tagesaktuellem Content auf Twitter, Facebook und Instagram, Momentaufnahmen, Memes und Infografiken zeigt man sich von seiner attraktiven Schokoladenseite.
@weizenspreu Wir können gerade nicht, wir machen einen neuen Aufguss.
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 13. Februar 2015
@MrWeg Hat ein Dreijähriger gemacht. Und der ist ziemlich stolz drauf.
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 15. Februar 2015
@moeffju Tja … pic.twitter.com/FfiFioeRRV
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 8. März 2015
Post: BVG_Kampagne, Quelle
Nach einigen Monaten
Nach einigen Monaten lässt der Shitstorm nach. Die Kampagne läuft weiter und neben den immer noch zahlreichen kritischen Tweets findet sich immer wieder auch die ein oder andere Anekdote eines wohlwollenden Fahrgastes. Für ihre selbstironischen Beiträge und frechen Antworten erhält die BVG mittlerweile sogar Applaus von der Social-Media-Gemeinde.
Die Bilanz knapp ein Jahr nach Kampagnenbeginn: Über 33.000 Fans bei Facebook, über 10.000 Follower bei Twitter, bis zu 100 Tweets am Tag zum Thema #weilwirdichlieben — und jede Menge Tough Love.