
MODUL 1: Kommunikation online
1. Case → 2. Insight → 3. Case → 4. Insight → 5. Deep Lecture
Das Dog Poop Girl
von Simon Noack und Stephan Frühwirt
Es ist der 5. Juni 2005, Sommer in Seoul. Ruckelnd fährt die U‑Bahn der Linie 2 auf die Ahyun Station zu, da passiert es, das Malheur, das noch Monate später die Welt beschäftigen wird: Ein kleiner Chihuahua im dritten Wagon, eben noch quietschfidel und verzückte Blicke auf sich ziehend, krümmt sich plötzlich wimmernd zusammen – und drückt unter den immer größer werdenden Augen der Fahrgäste einen breiigen Fladen mitten in den U‑Bahn-Gang.
Ein Aufschrei geht durch die Sitzreihe, eine alte Dame springt angeekelt zur Seite, Taschentücher werden vor Gesichter gehalten. Innerhalb von Sekunden ätzt ein säuerlicher Geruch durch den überhitzten Wagon. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Besitzerin, eine junge Studentin. Regungslos starrt sie auf den zerfließenden Haufen vor sich, dann auf den Hund: „Was ist los? Das hast du doch noch nie gemacht!“, flüstert sie. Man wirft ihr ein Taschentuch zu. Ohne den Blick zu heben, nimmt es und greift sich ihr wimmerndes Hündchen. Wie ein Baby legt sie es sich auf den Schoß und tupft ihm vorsichtig das Hinterteil sauber.
Entsetzen. Ob sie denn nicht gedenke, auch den Hundehaufen zu entfernen? Sie sei schließlich verantwortlich! Das Mädchen schließt die Augen und rührt sich nicht, paralysiert vor Ekel, Scham, Angst. Dann geht alles ganz schnell: Die U‑Bahn hält, die Türen öffnen sich, die Studentin springt auf, stürzt in hastigen Schritten mitsamt Chihuahua aus dem Wagon und lässt alles hinter sich: Die Fahrgäste, die Empörung, den Hundehaufen.
Das war’s. Oder besser: Das wäre es gewesen, hätte nicht eine stille Beobachterin mit ihrem Smartphone ein Foto gemacht und die ganze Szene gleich auf mehreren Social-Media-Plattformen gepostet.

Fotos: Ogreenworld, Quelle
Aber wen interessiert schon ein Hundehaufen in einer U‑Bahn in Seoul?
Wie sich zeigen wird: ziemlich viele. Innerhalb weniger Stunden wird das Foto tausendfach geteilt und mit hasserfüllten Kommentaren versehen. Man recherchiert die Identität der Studentin mit dem Chihuahua und wenige Tage später kennt jeder in Südkorea ihren Hund, ihre Universität, ja sogar ihre Eltern. Schon bald ist der Fall vom Hundehaufen in der U‑Bahn weltweit bekannt. Inzwischen hat man auch einen Namen für das Mädchen gefunden: „Gae-Ttong-Nyue“, Dog Poop Girl. Die Empörung schwillt zu einem Ausmaß an, das man später als Shitstorm bezeichnen wird.
Von nun an hat die Studentin keine Ruhe mehr. Überall wird sie jetzt erkannt, gehässige Kommentare begleiten sie auf der Straße, in Geschäften, in der Universität. Voller Verzweiflung verlässt sie ihre Wohnung nicht mehr: „Wenn ihr mich weiter im Internet verfolgt, werde ich alle Mobber verklagen. Also bitte hört auf!“ Aber das nimmt schon keiner mehr wahr: Seit dem Malheur in der U‑Bahn ist sie das „Dog Poop Girl“.