Das Dog Poop Girl2019-02-12T11:46:42+02:00

MO­DUL 1:  Kom­mu­ni­ka­ti­on on­line

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Das Dog Poop Girl

Foto: Ajay, Quel­le, Li­zenz: CC BY 2.0

von Si­mon Noack und Ste­phan Früh­wirt

Es ist der 5. Juni 2005, Som­mer in Seo­ul. Ru­ckelnd fährt die U‑Bahn der Li­nie 2 auf die Ahyun Sta­ti­on zu, da pas­siert es, das Mal­heur, das noch Mo­na­te spä­ter die Welt be­schäf­ti­gen wird: Ein klei­ner Chi­hua­hua im drit­ten Wa­gon, eben noch quietsch­fi­del und ver­zück­te Bli­cke auf sich zie­hend, krümmt sich plötz­lich wim­mernd zu­sam­men – und drückt un­ter den im­mer grö­ßer wer­den­den Au­gen der Fahr­gäs­te ei­nen brei­igen Fla­den mit­ten in den U‑­Bahn-Gang.

Ein Auf­schrei geht durch die Sitz­rei­he, eine alte Dame springt an­ge­ekelt zur Sei­te, Ta­schen­tü­cher wer­den vor Ge­sich­ter ge­hal­ten. In­ner­halb von Se­kun­den ätzt ein säu­er­li­cher Ge­ruch durch den über­hitz­ten Wa­gon. Die Auf­merk­sam­keit rich­tet sich auf die Be­sit­ze­rin, eine jun­ge Stu­den­tin. Re­gungs­los starrt sie auf den zer­flie­ßen­den Hau­fen vor sich, dann auf den Hund: „Was ist los? Das hast du doch noch nie ge­macht!“, flüs­tert sie. Man wirft ihr ein Ta­schen­tuch zu. Ohne den Blick zu he­ben, nimmt es und greift sich ihr wim­mern­des Hünd­chen. Wie ein Baby legt sie es sich auf den Schoß und tupft ihm vor­sich­tig das Hin­ter­teil sau­ber.

Ent­set­zen. Ob sie denn nicht ge­den­ke, auch den Hun­de­hau­fen zu ent­fer­nen? Sie sei schließ­lich ver­ant­wort­lich! Das Mäd­chen schließt die Au­gen und rührt sich nicht, pa­ra­ly­siert vor Ekel, Scham, Angst. Dann geht al­les ganz schnell: Die U‑Bahn hält, die Tü­ren öff­nen sich, die Stu­den­tin springt auf, stürzt in has­ti­gen Schrit­ten mit­samt Chi­hua­hua aus dem Wa­gon und lässt al­les hin­ter sich: Die Fahr­gäs­te, die Em­pö­rung, den Hun­de­hau­fen.

Das war’s. Oder bes­ser: Das wäre es ge­we­sen, hät­te nicht eine stil­le Be­ob­ach­te­rin mit ih­rem Smart­pho­ne ein Foto ge­macht und die gan­ze Sze­ne gleich auf meh­re­ren So­ci­al-Me­dia-Platt­for­men ge­pos­tet.

Fo­tos: Ogreen­world, Quel­le

Aber wen in­ter­es­siert schon ein Hun­de­hau­fen in ei­ner U‑Bahn in Seo­ul?

Wie sich zei­gen wird: ziem­lich vie­le. In­ner­halb we­ni­ger Stun­den wird das Foto tau­send­fach ge­teilt und mit hass­erfüll­ten Kom­men­ta­ren ver­se­hen. Man re­cher­chiert die Iden­ti­tät der Stu­den­tin mit dem Chi­hua­hua und we­ni­ge Tage spä­ter kennt je­der in Süd­ko­rea ih­ren Hund, ihre Uni­ver­si­tät, ja so­gar ihre El­tern. Schon bald ist der Fall vom Hun­de­hau­fen in der U‑Bahn welt­weit be­kannt. In­zwi­schen hat man auch ei­nen Na­men für das Mäd­chen ge­fun­den: „Gae-Ttong-Nyue“, Dog Poop Girl. Die Em­pö­rung schwillt zu ei­nem Aus­maß an, das man spä­ter als Shit­s­torm be­zeich­nen wird.

Von nun an hat die Stu­den­tin kei­ne Ruhe mehr. Über­all wird sie jetzt er­kannt, ge­häs­si­ge Kom­men­ta­re be­glei­ten sie auf der Stra­ße, in Ge­schäf­ten, in der Uni­ver­si­tät. Vol­ler Ver­zweif­lung ver­lässt sie ihre Woh­nung nicht mehr: „Wenn ihr mich wei­ter im In­ter­net ver­folgt, wer­de ich alle Mob­ber ver­kla­gen. Also bit­te hört auf!“ Aber das nimmt schon kei­ner mehr wahr: Seit dem Mal­heur in der U‑Bahn ist sie das „Dog Poop Girl“.

Wei­ter zum In­sight