Kom­mu­ni­ka­ti­on on­line: Al­les un­ter Kon­trol­le?2019-02-12T12:17:58+02:00

MO­DUL 1: Kom­mu­ni­ka­ti­on on­line

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Al­les un­ter Kon­trol­le?

von Si­mon Noack und Ste­phan Früh­wirt

Mit der Ver­brei­tung des mo­bi­len In­ter­nets hat die Be­deu­tung die­ses neu­en Leit­me­di­ums seit der Ent­wick­lung des Web 2.0 noch ein­mal neue Di­men­sio­nen er­reicht. Im Grun­de gibt es heu­te kein Off­line mehr, weil der Zu­griff auf das Web von über­all aus mög­lich ist oder doch bald sein wird. Je­der­zeit, egal wo, tip­pen und wi­schen Men­schen an ih­ren Ge­rä­ten her­um und die Fra­ge, ob man sich ein Le­ben ohne In­ter­net vor­stel­len könn­te, stellt sich längst nicht mehr. Vor al­lem durch ex­trem nied­ri­ge Kos­ten ver­än­dert On­line-Kom­mu­ni­ka­ti­on die Ge­sell­schaft in al­len Be­rei­chen, ganz gleich ob pri­va­ter oder pro­fes­sio­nel­ler Art.

Vor der Jahr­tau­send­wen­de ver­ban­den sich mit die­sen Ver­än­de­run­gen zwei ge­gen­sätz­li­che Sze­na­ri­en: Wäh­rend die Kul­tur­pes­si­mis­ten pro­phe­zei­ten, das In­ter­net wer­de zwi­schen­mensch­li­che Be­zie­hun­gen ra­di­kal zer­stö­ren, fei­er­ten es die En­thu­si­as­ten als Me­di­um ei­ner lang­ersehn­ten frei­heit­li­chen Ge­sell­schaft. Bei­de Pro­gno­sen ha­ben sich als zu pau­schal er­wie­sen, ak­tu­el­le An­sät­ze be­trach­ten das Me­di­um deut­lich dif­fe­ren­zier­ter.

Wie im Fall der Schrift han­delt es sich beim In­ter­net um Te­le­kom­mu­ni­ka­ti­on, durch die na­tür­li­che Ein­schrän­kun­gen von Zeit und Raum in den Hin­ter­grund tre­ten. So kann man in Asi­en au­gen­blick­lich auf das re­agie­ren, was in Ame­ri­ka on­line ge­stellt wur­de – un­ab­hän­gig von tau­sen­den Ki­lo­me­tern und meh­re­ren Zeit­zo­nen da­zwi­schen. Zu­gleich ist das In­ter­net ein Mas­sen­me­di­um wie der Buch­druck, mit dem man sich nicht an we­ni­ge Adres­sa­ten rich­tet, son­dern, wenn man will, an un­be­grenzt vie­le.

Be­reits die klas­si­schen Mas­sen­me­di­en ha­ben im Ver­gleich zu münd­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kos­ten ge­senkt und die Er­reich­bar­keit über den Kreis der An­we­sen­den hin­aus stark er­wei­tert. Den­noch ist der Auf­wand für die Pro­duk­ti­on von Druckerzeug­nis­sen oder Rund­funk­sen­dun­gen noch im­mer so hoch, dass nicht al­les, was kom­mu­ni­ziert wer­den könn­te, tat­säch­lich auch kom­mu­ni­ziert wird. Es muss the­ma­tisch klar se­lek­tiert wer­den und ein Groß­teil al­ler mög­li­chen Bei­trä­ge bleibt des­halb un­ver­öf­fent­licht. Dies än­dert sich mit dem In­ter­net und lässt sich in Fo­ren, Chat­rooms, so­zia­len Netz­wer­ken und auf Blogs sehr gut ab­le­sen: Pu­bli­ziert wird, was die we­ni­gen Se­kun­den des da­mit ver­bun­de­nen Auf­wands wert ist. Dass dies auch viel­fach Tri­vi­al­kom­mu­ni­ka­ti­on ein­schließt, ver­steht sich von selbst. Un­ter­hal­tun­gen über Ne­ben­säch­li­ches gab es in­des auch schon im­mer, nur ha­ben sie den Be­reich des münd­li­chen Ge­sprächs bis­her nicht ver­las­sen. Die­ser Long Tail der Kom­mu­ni­ka­ti­on ist nun sicht­bar.

Und in der Tat: Dass „steinis_​welt” Erb­sen­sup­pe ge­ges­sen hat und nun zu­frie­den auf der Couch sitzt, mag auf den ers­ten Blick nicht un­be­dingt als re­le­vant er­schei­nen, kann aber über Twit­ter und In­sta­gram ohne Wei­te­res 100 und mehr Fol­lo­wer in­ter­es­sie­ren. Was in ei­nem ge­druck­ten Buch nicht ste­hen könn­te, weil das Ver­hält­nis zwi­schen Druck­kos­ten und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­nut­zen dies nicht zu­lässt, ist im In­ter­net all­ge­gen­wär­tig. Rand- und Ni­schen­be­rei­che – ganz gleich ob es sich um das Mit­tag­essen, Ver­schwö­rungs­theo­ri­en oder ge­sam­mel­tes Lai­en­wis­sen han­delt –, fin­den im Netz millionen‑, ja mil­li­ar­den­fach ih­ren Platz. In ih­rer Ge­samt­heit über­wiegt die­se Ni­schen­kom­mu­ni­ka­ti­on bei Wei­tem die Aus­ein­an­der­set­zung mit den gro­ßen The­men der Welt­öf­fent­lich­keit. Da­mit hat sich das ge­ne­rel­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­po­ten­ti­al glo­bal enorm ver­viel­facht.

Da­bei darf man je­doch nicht da­von aus­ge­hen, dass al­len Bei­trä­gen glei­cher­ma­ßen Auf­merk­sam­keit ge­schenkt wird. Denn in Be­zug auf Reich­wei­te und Wahr­neh­mung be­steht on­line zwar Chancen‑, aber nicht auch Er­geb­nis­gleich­heit. Statt­des­sen do­mi­niert das Pa­re­to-Prin­zip, nach dem der Groß­teil (80 Pro­zent) al­ler Auf­merk­sam­keit für ein be­stimm­tes The­ma le­dig­lich we­ni­gen (20 Pro­zent) Bei­trä­gen zu die­sem The­ma zu­kommt. Man spricht in die­sem Zu­sam­men­hang auch vom so­ge­nann­ten Mat­thä­us-Ef­fekt, der die Tat­sa­che be­zeich­net, dass schon klei­ne an­fäng­li­che Ab­wei­chun­gen durch Ver­stär­kung zu sehr gro­ßen Un­ter­schie­den wer­den kön­nen: Wer hat, dem wird ge­ge­ben.

Die Schlüs­sel­rol­le kommt da­bei nicht dem Ab­sen­der ei­ner Mit­tei­lung, son­dern je­dem ein­zel­nen In­ter­net­nut­zer und sei­ner per­sön­li­chen Ent­schei­dung zu. Erst sei­ne Ak­tio­nen – kom­men­tie­ren, emp­feh­len und ver­lin­ken – sor­gen da­für, dass sich In­for­ma­tio­nen, die in sei­nen Au­gen in­ter­es­sant, ku­ri­os, lus­tig oder skan­da­lös, also sti­cky, sind, mas­sen­haft ver­brei­ten oder eben auch nicht. Auf die­se Wei­se kommt es im Netz zu ex­tre­men Un­gleich­ver­tei­lun­gen und das in al­len Be­rei­chen des Long Tails, so­dass sich zu je­dem The­ma be­stimm­te Per­so­nen oder Or­ga­ni­sa­tio­nen als Big Play­er po­si­tio­nie­ren kön­nen. Ein Bei­spiel hier­zu stellt das vi­ra­le Mar­ke­ting dar: Der spek­ta­ku­lä­re Er­folg man­cher On­line-Kam­pa­gnen ist nur des­halb so enorm, weil zu­gleich sehr vie­le Maß­nah­men kon­kur­rie­ren­der Un­ter­neh­men über­haupt nicht oder nur am Ran­de wahr­ge­nom­men wer­den.

Aus den ge­sun­ke­nen Kos­ten er­gibt sich ne­ben der bei­na­he un­end­li­chen Fül­le pu­bli­zier­ter The­men und Bei­trä­ge zu­dem noch ein zwei­tes Merk­mal des In­ter­nets: Es zeich­net sich durch eine in­ter­ak­ti­ve Grund­struk­tur aus. Über Mas­sen­me­di­en kön­nen an­de­re nur durch One-Way-Kom­mu­ni­ka­ti­on er­reicht wer­den, ha­ben also nicht die Mög­lich­keit, Feed­back zu ge­ben. Si­cher kön­nen Le­ser Brie­fe an Re­dak­tio­nen schrei­ben und Zu­schau­er an Call-in-Shows teil­neh­men. Aber dies blei­ben stets Ein­zel­fäl­le, der größ­te Teil des Pu­bli­kums muss schwei­gen. Jede Re­ak­ti­on müss­te ja wie­der­um als Zei­tung ge­druckt oder als Sen­dung aus­ge­strahlt wer­den und wür­de des­halb das Kos­ten­pro­blem ex­po­nen­ti­ell ver­viel­fa­chen.

Im In­ter­net hin­ge­gen kann nicht nur je­der zu je­dem The­ma Bei­trä­ge ver­fas­sen, son­dern auch auf je­den Bei­trag ant­wor­ten. Da­durch wer­den sämt­li­che Re­ak­tio­nen sicht­bar und ge­ben den Teil­neh­mern wich­ti­ge Hin­wei­se dar­über, wel­che Er­war­tun­gen sei­tens der üb­ri­gen Be­tei­lig­ten be­stehen. Es wird so auch di­rekt deut­lich, ob eine Kom­mu­ni­ka­ti­on er­folg­reich war oder nicht. Die­ser Um­stand ist je­doch nicht im­mer er­freu­lich, vor al­lem dann nicht, wenn der Be­tref­fen­de sich noch in den ver­meint­li­chen Er­folgs­si­cher­hei­ten mas­sen­me­dia­ler Kom­mu­ni­ka­ti­on wiegt – und im Le­ben nicht da­mit rech­net, dass ein ver­schenk­tes Al­bum zu ei­nem Sturm der Ent­rüs­tung füh­ren könn­te.

Auf­grund der Un­gleich­ver­tei­lung der Auf­merk­sam­keit und der Sicht­bar­keit des Feed­backs müs­sen all­zu ein­fa­che Vor­stel­lun­gen der Kon­trol­lier­bar­keit von Kom­mu­ni­ka­ti­on im In­ter­net auf­ge­ge­ben wer­den. Die klas­si­schen Mas­sen­me­di­en leg­ten durch ihre Struk­tur bis­her ge­wis­se Er­war­tun­gen an Reich­wei­te und Ak­zep­tanz nahe, weil Druckerzeug­nis­se und Rund­funk­sen­dun­gen im Nor­mal­fall eine re­la­tiv gro­ße An­zahl an Emp­fän­gern er­rei­chen konn­ten, de­ren Feed­back un­zu­gäng­lich blieb. Man wuss­te nicht, wie das Pu­bli­kum auf Mit­tei­lun­gen re­agier­te und konn­te ge­ra­de des­halb von der be­ab­sich­tig­ten Wir­kung aus­ge­hen. In der kom­mu­ni­ka­ti­ven Wirk­lich­keit des In­ter­nets er­wei­sen sich sol­che Er­war­tun­gen je­doch of­fen­sicht­lich als un­zu­tref­fend. Dies ma­chen Bei­spie­le wie das Doog Poop-Girl oder das von iTu­nes ver­schenk­te U2-Al­bum deut­lich. Die Kom­ple­xi­tät der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­um­ge­bung ist sicht­bar ge­wor­den. Da­mit stei­gen auch die An­for­de­run­gen. Und die dar­aus sich er­ge­be­nen Un­si­cher­hei­ten be­tref­fen Ama­teu­re und Pro­fis glei­cher­ma­ßen.

Das heißt je­doch nicht, dass es kei­ne Ori­en­tie­rungs­punk­te mehr ge­ben wür­de. Es fin­den sich durch­aus ganz we­sent­li­che For­schungs­er­geb­nis­se zu vie­len As­pek­ten von On­line-Kom­mu­ni­ka­ti­on, mit de­ren Hil­fe Ent­schei­dun­gen ge­trof­fen und be­grün­det wer­den kön­nen. Wer mehr über The­men wie Selbst­dar­stel­lung, Sto­ry­tel­ling und Kon­flikt­be­wäl­ti­gung in So­ci­al Me­dia weiß, kann Pro­ble­me vor­aus­schau­en­der iden­ti­fi­zie­ren, Auf­ga­ben kom­pe­ten­ter be­wäl­ti­gen und in Stress­si­tua­tio­nen auf ein so­li­des Fun­da­ment bau­en. Des­halb wer­den in den fol­gen­den Mo­du­len die we­sent­li­chen wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­se zur Kom­mu­ni­ka­ti­on in So­ci­al Me­dia ver­ständ­lich und pra­xis­be­zo­gen auf­be­rei­tet.

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