MODUL 7: Storytelling
1. Case → 2. Insight → 3. Deep Lecture
Der Reiz von Storytelling
Was Sie hier über Geschichten erfahren,
hätten Sie niemals für möglich gehalten
Jedes Schulkind lernt es: Eine Geschichte benötigt einen Anfang, einen Hauptteil und einen Schluss. Das behauptet schließlich so ähnlich bereits Aristoteles. Warum das so ist, bleibt – zumindest im Schulunterricht – offen. Dennoch lässt sich die Abfolge von Anfang, Hauptteil und Ende nicht bestreiten: Eine Geschichte verfügt über einen zeitlichen Rahmen. Wo sie beginnt und wo sie endet, ist erkennbar, in der Zwischenzeit spielt sich eine Handlung ab. Dinge verändern sich, etwas passiert, es entsteht eine besondere narrative Dynamik. Und genau darin liegt der Reiz von Geschichten verborgen, denn diese Dynamik bestimmt nicht nur das Schicksal der Protagonisten, sondern sie ergreift auch den Rezipienten.
von Jaana Müller-Brehm, Stephan Frühwirt und Simon Noack
Es war einmal… – Wie alles beginnt
Geschichten sind Verwandlungskünstler. Sie können unzählige Gestalten annehmen. Das gilt auch für ihren Anfang: Eine Erzählung kann mit der Darstellung eines ersten Ereignisses, der Beschreibung einer Person, einer Landschaft, einer Erinnerung oder eines Gefühls beginnen. Doch so unterschiedlich diese Darstellungen auch sein mögen, eines haben sie alle gemeinsam: Sie erzeugen einen Mangel an Informationen.1
Einerseits gibt der Beginn erste Einblicke in die Welt, in der sich die Geschichte abspielt. Andererseits aber verspricht er vor allem weitere Informationen, die noch unbekannt sind und erst später (wahrscheinlich) aufgedeckt werden. Damit werden Zuschauer, Leser und Zuhörer geködert.
Kafka, Franz: Der Proceß, Stuttgart: Reclam, 1995, S. 7.
Mit diesen Worten beginnt Der Proceß von Franz Kafka. Der Leser erhält wichtige Informationen über den Protagonisten: Sein Name ist Josef K. und er wird eines Morgens verhaftet, obwohl er nichts getan hat. Vor allem wird der Leser aber in Unwissenheit versetzt. Weshalb genau wird K. verhaftet? Was wird ihm vorgeworfen? Wer hat ihn verleumdet? Und wie geht es jetzt weiter? In einer ähnlichen Situation befindet sich der Rezipient der Erzählung Die Verwandlung:
Kafka, Franz: Die Verwandlung. Reclam XL. Text und Kontext,
Stuttgart: Reclam, 2013, S. 5.
Auch hier bekommt der Leser erste, wesentliche Informationen über die Hauptfigur, die Gregor Samsa heißt. Gregor hat schlecht geschlafen und ist als Ungeziefer aufgewacht. Aber genau damit eröffnen sich dem Leser zahlreiche unbeantwortete Fragen. Wie konnte er sich in ein Insekt verwandeln? Hält ein Mensch das aus? Und was zum Teufel soll Gregor jetzt bloß machen? Bereits in den ersten Sätzen dieser beiden Geschichten wird also ein Informationsdefizit erzeugt, das Ungewissheit herstellt und Fragen aufwirft. Erst mit dem Fortgang der Geschichte werden sie womöglich beantwortet. Deshalb nimmt der Rezipient von diesem Augenblick an eine zukunftsgerichtete Perspektive ein2: Er möchte herausfinden, wie die Geschichte weitergeht.
Spannung – abseits des Gewöhnlichen
Um das Informationsdefizit zu erzeugen, stellen Geschichten einen Kontrast zwischen den Erwartungen des Lesers und einer ungewöhnlichen Situation her. Dies ist möglich, weil jeder Rezipient davon ausgeht, dass sein Weltwissen im Großen und Ganzen auf die jeweils erzählte Welt angewendet werden kann – und zwar zunächst unabhängig davon, ob diese als real oder fiktional beschrieben wird.3 Was nicht explizit als anders dargestellt wird, interpretiert er mit Hilfe seines Erfahrungswissens. In diese Annahme von Normalität bricht ein ungewöhnliches Ereignis ein, das die bisherigen Erwartungen wirksam zerstört. Und die Frage ist dann: Wie soll es nun weitergehen?
Sofie, die Protagonistin in Jostein Gaarders Roman Sofies Welt, scheint am Anfang der Geschichte ein gewöhnliches Mädchen zu sein, auf dessen Heimweg sie der Leser nach Schulschluss begleitet. Eine alltägliche Routine – bis sie zu Hause ankommt:
Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der
Philosophie, 8. Auflage, München: dtv, 2005, S. 7 f. (Hervorhebungen
im Orignial)
Die Beschreibung kontrastiert deutlich zwischen dem normalen Alltag der Protagonistin und dem merkwürdigen Brief, der im Gegensatz zu diesem Alltag etwas ziemlich Ungewöhnliches darstellt: der Briefumschlag, der keine Briefmarke trägt, also nicht auf dem herkömmlichen Postweg zu Sofie gelangt sein kann, und der Zettel ohne Anrede, auf dem nur eine Frage ohne weitere Erklärungen steht – nicht gerade ein zu erwartender Inhalt. Schließlich fehlt der Absender, der normalerweise angibt, an wen man sich mit einer Antwort, die der Schreiber mit der Formulierung der Frage ja offenbar erwartet, richten könnte. Der Brief deutet bereits auf jene Reihe außeralltäglicher Ereignisse hin, aus der sich die Handlung des Romans zusammensetzt. Dies macht den Leser neugierig, er will wissen, was auf den Brief folgt.
Die Suche nach Indizien
Mit der Frage, wie die Geschichte nach ihrem Auftakt weitergeht, verharrt der Rezipient aber nicht in abwartender Passivität: Vielmehr begibt er sich – angetrieben durch Neugierde und Spannung – aktiv auf die Suche nach Anhaltspunkten dafür, wie sich die Geschichte weiterentwickeln und wie sie enden wird.
Hierfür interpretiert er den Text, deutet die einzelnen Ereignisse und entzieht ihnen Informationen4 über das, was er erwarten darf. Beispielsweise sucht er nach den Motiven für die Handlungen der Protagonisten und nach den Ursachen für bestimmte Geschehnisse oder deren mögliche Folgen. Das eröffnet den Autoren von Geschichten einen enormen Gestaltungsspielraum. Sie können durch Hinweise Ahnungen anregen, Fährten legen, Spuren andeuten.5 Der Gärtner verhielt sich von Anfang an so merkwürdig und außerdem wurden im Schuppen leere Packungen Rattengift gefunden – er muss es gewesen sein, er muss die Dame des Hauses vergiftet haben!
Zugleich ist es aber auch möglich, widersprüchliche Signale in die Geschichte einzubauen6, sodass plausible Vermutungen wieder unwahrscheinlicher werden und immer eine mehr oder weniger große Unsicherheit auf der Seite des Rezipienten besteht. Plötzlich taucht ein Alibi auf, das den Gärtner entlastet. Vielleicht war es doch der verbitterte Ehemann, weil er das Verhältnis seiner Frau mit dem Tennislehrer nicht mehr ertragen konnte?
Und diese Wendungen und Unsicherheiten sind wichtig, wenn es bis zum Ende spannend bleiben soll, denn: Sind die Vermutungen des Rezipienten zu wahrscheinlich und der weitere Verlauf und das Ende einer Geschichte zu vorhersehbar, löst sich die Spannung auf. Und damit vergeht dann auch das Interesse, sich weiter mit ihr auseinanderzusetzen.
Die narrative Dynamik erklärt auch, warum Inhalte von Geschichten häufig besser erinnert werden, als das bei anderen Darstellungsformen der Fall ist. In eine spannende Geschichte ist der Rezipient normalerweise deutlich stärker involviert als beispielsweise in die Beschreibung eines Sachtextes. Indem er sich also auf Grund des Informationsdefizits aktiver und konzentrierter mit der Handlung auseinandersetzt, prägt er sie sich zugleich auch stärker ein.
Emotionen: Gefärbte Spannung
Spannung hat viele Gesichter. Oft ist sie emotional gefärbt, indem bestimmte Geschehnisse erhofft oder befürchtet werden. Der Grund hierfür liegt darin, dass Emotionalisierung trotz Ungewissheit Sicherheit gibt: Gefühle reduzieren die Komplexität der vielfältigen Möglichkeiten, die durch die Auflösung bestimmter Erwartungen entsteht. Dies gelingt, indem sie die Perspektive des Fühlenden entdifferenzieren7 und die jeweilige Situation in ein sehr grobes, stark vereinfachtes Beobachtungsmuster zwängen. Zwar werden dadurch sehr viele Informationen schlichtweg ausgeblendet und ignoriert – Wut und Liebe machen gleichermaßen blind. Aber das ermöglicht zugleich eine Bewertung der Situation, die den Betreffenden handlungsfähig macht.
Völlig überraschend springt der Löwe im Zoo über die Absperrung. Damit hatte keiner gerechnet. Unwillkürlich bricht Panik aus, rette sich, wer kann! In Todesangst rennen alle um ihr Leben – ganz egal wohin. In diesem Fall hat Emotionalisierung eine womöglich lebensrettende Funktion. In Sekundenbruchteilen wird das Geschehen als hochgefährlich eingestuft, die Beteiligten reagieren mit Angst. Man weiß nicht, wie das geschehen konnte. Man weiß nicht, wie hungrig oder angriffslustig das Tier ist. Man weiß nicht, wie schnell Hilfe herbeigeholt werden kann. Aber wenigstens kann man rennen und mit viel Glück entkommen.
Auch die Rezipienten von Geschichten reagieren häufig so. Obwohl sie nicht direkt von den Ereignissen betroffen sind, versetzen sie sich in die Lage derjenigen, die vom narrativen Schicksal gebeutelt werden. Zwar ist es Sofie, die nicht weiß, wer ihr den Brief geschrieben hat und welche Motive diesen Jemand antreiben. Aber der Leser des Romans kann sich vorstellen, wie es wäre, in diesem Moment anwesend zu sein, oder sich sogar mit Sofie identifizieren und sich dann entweder mit ihr gemeinsam oder an ihrer statt fürchten.
In anderen Fällen werden durch die Geschichte andere Gefühle aktiviert: Während Millionen von Menschen den Film Titanic sahen, hat ein großer Teil von ihnen gehofft, dass die Protagonisten Kate und Jack das katastrophale Schiffsunglück überleben würden und in einer gemeinsamen Zukunft ihre grenzenlose Liebe genießen könnten. In diesem Fall bleibt die Hoffnung aber unerfüllt, denn am Ende versinkt Jack tot im Ozean und Kate bleibt allein zurück. Eine Wendung, die dann auch die emotionale Lage des Zuschauers stark verändert und Kinobesucher tausendfach zu Tränen gerührt hat
Teil der Geschichte werden
Nicht alle Geschichten emotionalisieren gleich intensiv. Ob tatsächlich haarsträubende Angst entflammt oder lediglich ein vages Bangen aufflackert, hängt vor allem damit zusammen, wie stark sich der Rezipient in die Handlung hineinversetzt, wie sehr er von den Ereignissen selbst betroffen ist. Dies ist nicht alleine von seiner individuellen Disposition abhängig. Auch die Art und Weise, wie erzählt wird, übt Einfluss darauf aus. Man spricht in diesem Zusammenhang von narrativer Nähe oder Präsenz8 und meint damit, dass der Rezipient über den bewussten Einsatz narrativer Gestaltungsmittel – wie beispielsweise Kameraeinstellung, ‑position und ‑führung – in eine bestimmte Ferne oder Nähe zum Geschehen gerückt werden kann.
Dabei gilt: Je genauer und umfassender die Geschichte jene sinnlichen Eindrücke vermittelt, die ein Beobachter vor Ort wahrnehmen würde, desto stärker wird die Vorstellungskraft des Rezipienten angeregt und eine Nähe zum Erzählten hergestellt, über die er eine größere Betroffenheit entwickeln kann.9 Damit korreliert dann auch die Intensität der Emotionalisierung: Als Kate im Film Titanic feststellt, dass Jack tot ist, sie ihn schließlich loslässt und er im eisigen Ozean untergeht, platziert die Kamera die Zuschauer direkt neben sie. Sie betrachten den Sternenhimmel, das Auftauchen eines Rettungsboots und den versinkenden Jack aus demselben Blickwinkel wie Kate. Die Rufe der Retter klingen gedämpft und verzerrt – so wie Kate sie in ihrem geschwächten Zustand hören könnte. Auch davor haben die Zuschauer die beiden die ganze Zeit über begleitet, ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen kennengelernt. Sie haben gesehen, wie sie um ihr Leben kämpften und damit den Untergang aus ihrer Perspektive miterlebt. All das verringert die Distanz zur Handlung des Films ganz erheblich und erklärt, wieso beispielsweise das Ende vielfach zu den traurigsten Filmszenen aller Zeiten gezählt wird.
Szene aus dem Film: Titanic. James Cameron. USA 1997
Bilder und Videos sind Medien, die im Gegensatz zu Texten narrative Nähe leichter herstellen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Betrachtung eines Bildes der Wahrnehmung dessen, was vor Ort erfahren werden könnte, sehr ähnlich ist. Visuelle Darstellungen können deshalb zahlreiche sinnliche Details viel direkter sichtbar machen als beispielsweise Sprache und Schrift. Sie entlasten den Adressaten zu einem großen Teil von seiner Mitwirkungspflicht, die beim Lesen von Texten darin besteht, sich die Ereignisse konkret vorzustellen. Fotos und Filme können daher zum einen passiver rezipiert werden, zum anderen verursachen sie normalerweise ein stabileres und stärkeres Präsenzempfinden.
Entspannt gespannt sein
Über das Spannungsmoment und die Emotionalisierung erhalten Geschichten eine Qualität, die sie für den Zuschauer, Leser oder Zuhörer als Darstellungsform sehr attraktiv machen. Dies nutzt vor allem die Unterhaltung aus, ganz besonders mit Hilfe von Fiktionalität: Eine fiktionale Geschichte teilt dem Rezipienten mit, dass es sich bei den Ereignissen nicht um die ihn tatsächlich betreffende Realität handelt, sondern um eine andere Welt, in die er zwar eintauchen kann, die für ihn jedoch keine direkten Konsequenzen hat10: Er kann fliegen, ohne zu fallen oder den Chef beschimpfen, ohne den Job zu verlieren. Deshalb kann ein Leser von Stephen Kings Es sich in seinem Sessel zurücklehnen und seine Angst genießen. Denn der mordende Clown Pennywise ist eine Fiktion, die im Buch ihr Unheil treibt, aber nicht in seinem Wohnzimmer. Spannung und Emotionen werden erfahrbar, ohne dass daraus eine reale Betroffenheit resultiert.
Bevor der Vorhang fällt
Die entstandene narrative Dynamik zielt auf das Ende der Geschichte ab, an dem sie sich zugleich auflöst. Mit der Pointe finden sowohl die Erzählung als auch das Erlebnis des Rezipienten ihren Abschluss. Das anfangs erzeugte Informationsdefizit kann an dieser Stelle beseitigt werden. Dann bezieht sich das Ende auf den Anfang und transformiert die Ungewissheit in ein: So ist es!11
Das Geheimnis wird gelüftet und zugleich klargestellt, welche Informationen für den Ausgang der Geschichte relevant waren und welche den Rezipienten nur in die Irre führen sollten. Die Vermutungen des Rezipienten über den Ausgang der Geschichte können bestätigt werden oder das Ende überrascht durch die ein oder andere Wendung noch einmal völlig. Dann findet ein Bruch mit dem zuvor aufgebauten Geschehen statt. Es ist aber auch möglich, dass am vermeintlichen Ende der Geschichte ein Cliffhanger wartet, der ein neues Informationsdefizit eröffnet. Die Spannung löst sich dann nicht auf, sondern wird für die Fortsetzung in einem weiteren Teil aufrechterhalten.12 Gute Cliffhanger sind deshalb erfolgskritisch für Serien, weil mit ihnen die Zeit zwischen den einzelnen Teilen, die mehrere Tage oder Wochen umfassen kann, überbrückt wird.
Wieso Geschichten für die Unternehmenskommunikation relevant sind
Gute Geschichten zeichnen sich also durch eine besondere Erlebnisqualität aus. Ganz sicher liegt nicht zuletzt darin ein Grund, weshalb sich Menschen rund um den Globus seit Jahrtausenden Geschichten erzählen. Und auch für Unternehmen liegt darin ein großes Potenzial für die Kommunikation mit ihren Stakeholdern.
Über die Emotionalisierung entfalten Geschichten eine Wirkung, wie sie für Werbung charakteristisch ist. Denn Werbung informiert nicht in erster Linie, sondern rückt stattdessen Informationen gerade in den Hintergrund13: Die hübsche Frau mit dem wallenden, glänzenden Haar erklärt in einem Shampoo-Werbespot nicht ausführlich, welche chemische Zusammensetzung das Produkt hat und weshalb genau das zu schöneren Haaren verhilft. Das Produkt wird also nicht argumentativ und faktenorientiert beschrieben.
An die Stelle umfangreicher Informationen treten dagegen stark vereinfachte Urteile: Die Frau ist attraktiv, ihre Haare sind schön und sie ist glücklich. Werbung entdifferenziert also die Perspektive auf ein Produkt oder eine Marke und entzieht sich genau damit einer rationalen Beurteilung.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass dadurch auch die Motive auf der Seite des Kunden weniger wirksam sind. Seine ursprünglichen Einstellungen, Überlegungen und Gründe dafür, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, verlieren an Relevanz. Selbst wenn sie mit ihrem bisherigen Shampoo zufrieden und ganz sicher war, kein anderes zu benötigen, kann Werbung die Kundin dazu bringen, diese Einstellung zu hinterfragen und ihre bisherige Entschlossenheit in die Frage zu verwandeln, ob sie nicht vielleicht doch das neue Produkt ausprobieren möchte. Weil man damit eben so attraktiv, schön und glücklich sein kann, wie die Frau im Spot. Genau betrachtet überzeugt Werbung also nicht zum Kauf – eine solche Manipulationsmacht hat auch die ausgetüfteltste Kampagne nicht –, sondern bringt den Umworbenen lediglich zu der Frage, ob das Produkt ihn vielleicht doch interessiert14: Ich brauche definitiv kein neues Handy – aber das neue iPhone ist so schön! Oder: Eine Actionkamera ist ein ganz klar unnötiges Spielzeug – aber mit der GoPro-Kamera kann man wirklich aufregende Videos aufnehmen!
Eben deshalb sind auch Geschichten und Storytelling für das Marketing interessant. Auch sie können, wie wir gesehen haben, durch Emotionalisierung stark vereinfachende Bewertungen hervorrufen. Sie sorgen dann für große Gefühle statt für detaillierte Informationen – und das selbst dann, wenn das jeweilige Produkt, die Marke oder das Unternehmen gar nicht im Mittelpunkt der Handlung stehen.
Imprägnieren des Gedächtnisses
Zugleich sollen der Eindruck, das Gefühl, die Emotion möglichst langfristig wirksam sein. Wenn der Rezipient später als Kunde seine Kaufentscheidung trifft, soll er dies möglichst unter dem Einfluss der Werbung tun. Da sich Geschichten über die Spannung so stark einprägen, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht.
Zeit – das bestechende Angebot
des Social Web
Damit solche Szenarien Realität werden, ist es wichtig, dass sich eine Geschichte entfaltet. Weil Spannung und Emotionen nicht von einem Moment auf den nächsten entstehen, sondern sich entwickeln müssen, brauchen sie Zeit.
Anders als beispielsweise bei Fernsehwerbung – die durchschnittliche Dauer eines Werbespots betrug 2015 etwa 27 Sekunden; das ist kein Zeitrahmen, in dem sich viel entwickeln kann – steht in Social Media selbst bei knappen Werbebudgets wesentlich mehr Zeit zur Verfügung. Statt an den Kosten orientiert sich die Länge der einzelnen Beiträge deshalb viel stärker an den plattformspezifischen Erwartungen auf Seiten der Nutzer. Hinsichtlich der Aufmerksamkeitsspanne, mit der Unternehmen rechnen dürfen, bestehen dabei relativ große Unterschiede. Geschichten können deshalb auch in Social Media nicht beliebig ausgedehnt werden. Allerdings ist es ebenfalls wichtig, die Geduld der Nutzer nicht zu unterschätzen. Dass viele Nutzer im Normalfall eilig durch ihren Newsfeed auf Facebook oder Instagram scrollen, ist kein Geheimnis – dass sie trotzdem häufig bei Inhalten mit Mehrwert hängen bleiben, ist jedoch ebenfalls keines. Sind sie dem Reiz einer gelungenen Geschichte erst einmal erlegen, können sie sich durchaus auf sie konzentrieren.
Gute Geschichten werden weitererzählt
Die Tatsache, dass gut erzählte Geschichten durch ihre Spannung eine spezifisch narrative Qualität besitzen, ist im Fall von Social Media besonders relevant. Denn über dieses Merkmal werden sie auch für jene Nutzer attraktiv, die sich für das jeweilige Produkt, die Marke oder die Organisation überhaupt nicht interessieren. Eine Geschichte, die eine Studentin in der Bibliothek vor ihrem Laptop in Gelächter ausbrechen lässt, ungeachtet der mahnenden Blicke der anderen Besucher, die genervt ihre Zeigefinger an die Lippen legen; oder den Pförtner eines Parkplatzes völlig ungeniert zum Weinen bringt, während sich eine Schlange hupender Autos vor seiner Schranke bildet, hat gute Chancen darauf, sich wegen genau dieser Wirkung zu verbreiten.
Während die Studentin und der Pförtner dies aber bisher in erster Linie mündlich tun mussten, ist das im Social Web mit einem einzigen Klick und in vollem Umfang möglich. Das Teilen wird zu einer Angelegenheit von Sekunden, der Wunsch, jemandem von einer tollen Erfahrung zu berichten, kann sofort erfüllt werden. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied, denn der Effekt der Geschichte ist so viel einfacher reproduzierbar. Während die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschichte weitererzählt wird, in mündlicher Kommunikation normalerweise von Person zu Person abnimmt, kann sie deshalb in Social Media innerhalb kürzester Zeit eine extreme Reichweite generieren. Diese Skalierbarkeit, die vielen besser unter dem Begriff des viralen Marketings bekannt ist, macht Storytelling zu einem sehr effektiven Instrument der Öffentlichkeitsarbeit.
Von der Theorie zur Praxis:
Wie auch Sie eine gute Geschichte erzählen
I. Die Notwendigkeit eines
Informationsdefizits
Um die narrative Dynamik in Gang zu setzen, muss Ihre Geschichte ein Informationsdefizit produzieren, um Interesse zu wecken und Spannung zu erzeugen. Es ist deshalb ganz entscheidend, wie der Einstieg in eine Geschichte gestaltet wird. Brechen Sie gezielt mit bestimmten Erwartungen und Normvorstellungen Ihrer Zielgruppe und versprechen Sie – direkt oder indirekt – die damit hergestellte Ungewissheit im Laufe der Erzählung durch verblüffende Neuigkeiten zu ersetzen. Die Deutlichkeit, mit der Sie dabei kommunizieren, kann je nachdem, welchen Clou Sie am Ende bereithalten, sehr unterschiedlich sein. Sie entscheiden, ob Sie sich an den Clickbaits von BuzzFeed oder heftig.co orientieren wollen, die ihren Nutzern versprechen, dass ihre Pointe sie völlig überwältigen wird (so wie auch wir es am Anfang dieses Beitrags mit einem Augenzwinkern getan haben), oder ob Sie eher subtil vorgehen wollen.
II. Die Notwendigkeit der Dosierung von Information
Spannung und Emotionen leben von Unsicherheit. Aber es sind auch Anhaltspunkte nötig, die den durch diese Unsicherheit ausgelösten Spekulationen über den weiteren Verlauf der Geschichte eine Richtung geben. Diese Hinweise präsentieren Sie dem Nutzer in der Handlung Ihrer Geschichte. Stück für Stück deckt sie ganz allmählich Informationen auf, die Ahnungen über den weiteren Verlauf und das Ende Ihrer Story ermöglichen. Sie sollten diese Informationen jedoch so wählen, dass die Vermutungen des Nutzers nicht zur Gewissheit werden, denn dann gibt es für ihn keinen Grund mehr, Ihre Geschichte weiter zu verfolgen. Vermeiden Sie es, berechenbar zu sein.
III. Die Notwendigkeit von Nähe
Die Intensität der Spannung und der Emotionalisierung, die Ihre Story erzeugt, ist abhängig davon, wie nah sich ein Nutzer dem Geschehen fühlen kann. Je mehr Sie seine Vorstellungskraft anregen, indem Sie ihm Details liefern, die er wahrnehmen könnte, wenn er vor Ort wäre, und je dichter Sie ihn an den Mittelpunkt der Ereignisse stellen, umso tiefer kann der Nutzer in die Handlung eintauchen und sich involviert und betroffen fühlen. Hierfür eignen sich wahrnehmungsnahe Medien wie Videos und Fotos am besten. Bedenken Sie dabei aber stets, dass Sie die Art der Reaktion des Nutzers nicht vollständig kontrollieren können. Es ist möglich, dass negative Emotionen entstehen, obwohl Sie positive Gefühle vermitteln wollten. Auch sie werden dann in Verbindung mit der beworbenen Marke oder dem Produkt gebracht.
IV. Die Notwendigkeit einer Pointe
Dies ist der vielleicht wichtigste Moment Ihrer Story und zugleich der Punkt an dem so viele Geschichten scheitern. Wenn Sie vollmundig versprechen, verblüffende und umwerfende Neuigkeiten zu präsentieren, und am Ende doch nur die Reste vom Vortag aufwärmen, oder den Nutzer auf eine völlig überraschende Wendung vorbereiten, die dann keine Haarnadelkurve ist, sondern die bereits eingeschlagene Richtung eigentlich beibehält, erzeugen Sie damit die maximale Enttäuschung. Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass Sie die Erwartungen, die Sie aufbauen, am Ende auch erfüllen müssen. Der Nutzer hat Ihnen seine Zeit geschenkt, obwohl er sich auch mit ganz anderen Dingen hätte beschäftigen können. Er wird sehr ungehalten reagieren, wenn er den Eindruck hat, hinters Licht geführt worden zu sein. An diesem Punkt scheitern beispielsweise die meisten Clickbaits, weil das, was der Nutzer zu lesen, sehen oder hören bekommt, seine Welt normalerweise eben nicht vom Kopf auf die Füße stellt. Es ist deshalb enorm wichtig, dass Sie von Anfang an nur so viel Pointe in Aussicht stellen, wie Sie am Ende auch liefern können. Denken Sie daran, dass Sie eine Verpflichtung gegenüber dem Nutzer eingegangen sind und beheben Sie das erzeugte Informationsdefizit mit einem Ende, das – je nachdem, welche Story Sie erzählt haben – beispielsweise wirklich überraschend oder nachhaltig sinnstiftend ist.
Zum Weiterlesen
Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 2., erweiterte Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996.