Was ist au­then­tisch?2019-02-12T12:37:19+02:00

MO­DUL 5: Au­then­ti­sche Selbst­dar­stel­lung

1. Case      2. In­sight    3. Deep Lec­tu­re

Was ist au­then­tisch?

Mit dif­fe­ren­zier­te­ren Mög­lich­kei­ten der Selbst­dar­stel­lung und der In­ter­ak­ti­on ha­ben So­ci­al Me­dia der For­de­rung nach Au­then­ti­zi­tät ei­nen neu­en Auf­schwung ver­lie­hen. Die­se For­de­rung stellt Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ex­per­ten vor ein Pro­blem, denn der Ef­fekt von Wahr­haf­tig­keit, Echt­heit und Un­mit­tel­bar­keit lässt sich nicht ein­fach er­zeu­gen: Was au­then­tisch ist, ent­schei­det je­der Be­ob­ach­ter nach ganz ei­ge­nen Prä­mis­sen. Er­folg­rei­che Stra­te­gi­en müs­sen da­her die Er­war­tun­gen der Sta­ke­hol­der in die Selbst­dar­stel­lung ei­ner Mar­ke ein­be­zie­hen.

von Si­mon Noack und Ste­phan Früh­wirt

So­ci­al Me­dia ha­ben die Mög­lich­kei­ten in­di­vi­du­el­ler Selbst­dar­stel­lung enorm er­wei­tert. Mit der tech­ni­schen Ent­wick­lung ist nicht nur die Reich­wei­te von Kom­mu­ni­ka­ti­on durch den Mi­ni­mal­auf­wand von On­line-Pu­bli­ka­tio­nen enorm ge­stie­gen. Auch die Mit­tel, mit de­nen die ei­ge­ne Per­sön­lich­keit auf Platt­for­men wie Face­book, Twit­ter, Snap­chat und Co. zum Aus­druck ge­bracht wer­den kann, sind viel­fäl­ti­ger als je zu­vor.

Mit den Mög­lich­kei­ten nimmt je­doch auch die Not­wen­dig­keit der Aus­wahl zu – je mehr man ma­chen könn­te, umso kla­rer muss man wis­sen, was da­von man tat­säch­lich ma­chen will: Wel­cher Dienst kommt für wel­che Zwe­cke in Fra­ge? Wie oft soll­te man pos­ten? Wer liest mit, wer nicht? Wel­che To­na­li­tät ist ad­äquat? Die­se und vie­le an­de­re Fra­gen müs­sen ein­zel­ne Nut­zer und Or­ga­ni­sa­tio­nen hin­sicht­lich ih­rer Selbst­dar­stel­lung be­ant­wor­ten, wenn sie So­ci­al Me­dia nut­zen.

Mit der Ver­füg­bar­keit von So­ci­al Me­dia sind des­halb auch die An­for­de­run­gen an die Re­fle­xi­ons- und Ent­schei­dungs­kom­pe­ten­zen der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­teil­neh­mer ge­stie­gen. Über den Nut­zen ei­nes güns­tig plat­zier­ten Hash­tags oder die Vor­zü­ge ei­ner vor­teil­haf­ten Sel­fie-Be­leuch­tung sind sich heu­te selbst 12-Jäh­ri­ge im Kla­ren. Wir alle spie­len Thea­ter – die ak­tu­el­le kom­mu­ni­ka­ti­ve Rea­li­tät macht das deut­li­cher als je zu­vor. Aber: Ist das al­les noch echt?

An­ge­sichts der Ex­plo­si­on an Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten dürf­te es kaum ver­wun­dern, dass be­son­ders Au­then­ti­zi­tät der­zeit als Wert be­tont und ge­ra­de im Be­reich der Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on un­un­ter­bro­chen ge­for­dert wird und Kom­mu­ni­ka­ti­on sehr sen­si­blen Prü­fun­gen auf Plau­si­bi­li­tät und et­wai­ge Un­ge­reimt­hei­ten un­ter­liegt. Wo In­sze­nie­rung an der Ta­ges­ord­nung ist, sehnt man sich of­fen­bar nach dem Mo­ment, in dem das Ori­gi­na­le, Wahr­haf­ti­ge, Un­ver­fälsch­te un­mit­tel­bar auf­blitzt. Wie kann pro­fes­sio­nel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on dar­auf re­agie­ren?

Im Über­blick: Was be­deu­tet Au­then­ti­zi­tät?

a) Au­then­ti­zi­tät von Per­so­nen ist eine Er­fin­dung der Neu­zeit

Das Wort Authen­ti­zität war ursprüng­lich aus­schließ­lich Kunst­werken oder Doku­menten vor­be­halten, de­ren Her­kunft durch die Si­gna­tur des Künst­lers oder des Macht­ha­bers als gesi­chert galt. Rous­seau ist, auch wenn er das Wort sel­ten be­nutzt, der ers­te, der es auf das mensch­liche Da­sein an­wen­det. Kri­tisch beob­achtet er den Ein­fluss des gesell­schaft­li­chen Le­bens des 18. Jahr­hun­derts auf das Indi­vi­duum: Vor al­lem Wis­sen­schaft und Küns­te er­zeug­ten sei­ner Auf­fas­sung nach in je­dem Men­schen das star­ke Ver­langen, dem an­de­ren zu ge­fal­len, aber da­durch wür­de die mensch­liche Exis­tenz ver­fälscht. Des­halb setzt er an die Stel­le ei­ner fremd­be­stimmten Lebens­weise, in der das Han­deln vom Wohl­wollen an­de­rer ab­hän­gig ist, das auto­nome Indi­vi­duum, das „den Wil­len und die Kraft be­sitzt, zwi­schen den Ele­men­ten un­se­res er­zwun­ge­nen Le­bens in der Ge­sell­schaft ent­schlos­sen zu wäh­len.” Die­ses Ver­ständnis von Authen­ti­zität ist seit­dem in der west­li­chen Kul­tur in vie­len Kon­texten reak­tua­li­siert wor­den. Man den­ke etwa an die ers­ten Eth­no­logen am An­fang des 20. Jahr­hun­derts, die in Stam­mes­kul­turen fern­ab der mo­der­nen Zivi­li­sa­tion nach dem unbe­rührten und da­her unver­fälschten Bewusst­sein such­ten oder an die Gene­ra­tion der 68er, die das authen­ti­sche Da­sein nur in alter­na­tiven Lebens­ent­würfen jen­seits der gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tionen für mög­lich hielt. In Anwen­dung auf das Ver­halten von Ak­teu­ren wird der Be­griff der Authen­ti­zität heu­te sehr häu­fig im Be­reich des Mar­ke­ting und der Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­tion ver­wendet.

b) Ver­halten wird als authen­tisch wahr­ge­nommen, wenn es selbst­be­stimmt ist

Wor­um geht es eigent­lich bei der For­de­rung nach Authen­ti­zität? Wer es sich ein­fach ma­chen will, setzt Authen­ti­zität mit Auf­rich­tig­keit gleich: Mit of­fe­ner und ehr­li­cher Kom­mu­ni­ka­tion, die auch ei­ge­ne Feh­ler und Unzu­läng­lich­keiten nicht ver­schweigt. Eine sol­che Hal­tung wird in So­ci­al Me­dia natür­lich auch gefor­dert: Ge­ra­de hier zeigt sich der Kun­de von sei­ner empör­testen Sei­te und ahn­det je­den auf­ge­deckten Be­trug unver­züg­lich mit ei­nem wü­ten­den Kom­mentar.
Doch die For­de­rung authen­tisch zu sein, geht dar­über hin­aus: Sie zielt  auf die Treue zum ei­ge­nen Selbst ab. Es geht um die Vor­stel­lung ei­nes wah­ren, in­ne­ren Kerns, der üb­rig bleibt, wenn man von den zahl­rei­chen Rol­len ab­sieht, die das Indi­vi­duum in der mo­der­nen Gesell­schaft in den unter­schied­li­chen lebens­welt­li­chen Kon­texten er­fül­len muss. Es geht um den Mo­ment, in dem es ganz bei sich ist. Als authen­tisch gilt, wer sei­ne Selbst­dar­stel­lung von sei­nen ei­ge­nen Prä­missen und nicht etwa vom Ur­teil sei­nes Beob­ach­ters ab­hän­gig macht. Der Unter­schied zwi­schen Auf­rich­tig­keit und Authen­ti­zität liegt dann dar­in, dass auch der noto­ri­sche Lüg­ner, der nie­mals auf­richtig ist, als authen­tisch gel­ten kann, wenn das Lü­gen zu sei­nen Mo­ti­ven zu pas­sen scheint. Aber wie passt das eigent­lich zu­sam­men, die Treue zum ei­ge­nen Selbst jen­seits al­ler Rol­len einer­seits und die gestei­gerten Anfor­de­rungen an die Selbst­dar­stel­lung ande­rer­seits? Ist das nicht ein Wider­spruch?

c) Rück­sicht auf an­de­re ist aber eben­so not­wen­dig. Au­then­ti­zi­tät ist des­halb nicht Au­to­no­mie

In den Bei­spielen des vor­letzten Ab­sat­zes wird eine Pro­ble­matik deut­lich, die mit dem Authen­ti­zi­täts­be­griff ver­bunden ist: Stellt man den so­zia­len Kon­text und die sich dar­aus erge­benden Anfor­de­rungen an das Ver­halten des Indi­vi­duums in Rech­nung, wie lässt sich dann das wah­re Selbst beob­achten oder gar le­ben? Die Vor­stel­lung ei­nes auto­nomen, vom Ur­teil und den Erwar­tungen an­de­rer unab­hän­gigen Indi­vi­duums kommt schnell an Gren­zen, wenn man sich vor Au­gen führt, dass die so­zia­le Exis­tenz nicht nur teil­weise, son­dern aus­nahmslos eine Ori­en­tie­rung an an­de­ren erfor­dert. Gesell­schaft ist ohne die Anpas­sung des Ver­hal­tens der Betei­ligten an die Erwar­tungen der an­de­ren Teil­nehmer schlicht­weg unmög­lich, ja aus der Per­spek­tive aktu­eller sozio­lo­gi­scher Theo­rien wird Ver­halten über­haupt erst zum so­zia­len Han­deln, wenn es sich zum Zweck der Koor­di­na­tion mit an­de­ren selbst be­schränkt. So be­trach­tet muss die so­zia­le Exis­tenz ei­ner Per­son vom ein­zig­ar­tigen, wah­ren We­sen des Indi­vi­duums ge­trennt wer­den. Kom­mu­ni­ka­tion und Den­ken sind ver­schieden.
Das wah­re Selbst des Indi­vi­duums kann des­halb für den Be­reich des So­zia­len kein Maß­stab sein, wenn es um Authen­ti­zität geht – voll­ständig au­to­nom kann man nur außer­halb der Gesell­schaft exis­tieren. Authen­ti­zität be­deu­tet dann also nicht, gänz­lich unab­hängig zu sein, son­dern sich in eine ge­woll­te Abhän­gig­keit zu be­ge­ben. Die Anfor­de­rungen und Ein­schrän­kungen des so­zia­len Le­bens be­wusst zu wäh­len und die Selbst­dar­stel­lung dar­an anzu­passen, ist die Auf­gabe, wenn es um Authen­ti­zität geht. Den­ken und Han­deln kön­nen also nicht völ­lig, soll­ten aber in ei­nem aus­rei­chenden Maß über­ein­stimmen.

d) Au­then­ti­zi­tät ist die Über­ein­stim­mung zwi­schen er­war­te­tem und ak­tu­el­lem Ver­hal­ten

Wir hat­ten fest­ge­stellt, dass Authen­ti­zität der­zeit eine häu­fig geäu­ßerte For­de­rung ist. Das heißt auch, dass sie vor al­lem von an­de­ren an den Han­delnden ge­rich­tet wird. Aber wie kön­nen die­se an­de­ren eigent­lich wis­sen, ob je­mand sei­nen ei­ge­nen Prin­zi­pien folgt oder nicht? Die Ant­wort lau­tet: Prin­zi­piell gar nicht. Der Grund da­für ist, dass Ge­dan­ken un­sicht­bar sind. Das Selbst des Bewusst­seins lässt sich nicht beob­achten, beob­achten las­sen sich nur das Ver­halten und die Kom­mu­ni­ka­tion von Per­sonen, an­hand de­rer Erwar­tungen ge­bil­det und ver­dichtet wer­den kön­nen. Dies ge­schieht in der Inter­ak­tion auto­ma­tisch und unun­ter­bro­chen: Jede Mit­tei­lung, je­des kleins­te Anzei­chen, wird sym­bo­lisch gene­ra­li­siert und lässt Erwar­tungen ent­stehen, die sich im Lau­fe der Zeit zu ei­nem gan­zen Erwar­tungs­ho­ri­zont ver­dichten – zum sprich­wört­li­chen Bild, das sich je­mand von ei­ner an­de­ren Per­son macht. Nur über die­ses Bild sind über­haupt Rück­schlüsse auf das Selbst mög­lich, die aber nie­mals veri­fi­ziert wer­den kön­nen.
Da­mit ver­schiebt sich die Per­spek­tive auf die so­zia­le Exis­tenz ei­ner Per­son. Weil man nicht in sie hin­ein­sehen kann, be­hilft man sich da­mit, ein be­stimm­tes Ver­halten für wahr­schein­lich zu hal­ten und die­ses als Aus­druck des Selbst zu be­trach­ten. Streng ge­nom­men er­gibt sich dann der Ein­druck von Authen­ti­zität also vor al­lem aus der Über­ein­stim­mung des aktu­ellen Ver­hal­tens ei­ner Per­son und den Erwar­tungen ihr gegen­über.

Or­ga­ni­sa­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on und Mar­ke

Was wir bis­lang in Be­zug auf Per­so­nen ge­sagt ha­ben, gilt glei­cher­ma­ßen für Or­ga­ni­sa­tio­nen. Auch sie wer­den als Teil­neh­mer an Kom­mu­ni­ka­ti­on wahr­ge­nom­men, auch ih­nen ge­gen­über wer­den Er­war­tun­gen ge­bil­det. Jede Kom­mu­ni­ka­ti­on – je­der Pro­dukt­launch, jede An­zei­ge, je­des Pos­ting – er­zeugt Er­war­tun­gen bei den Sta­ke­hol­dern, die nach und nach ein Bild der Leis­tun­gen oder Marke(n) for­men.

Die­ses Cor­po­ra­te oder Mar­ken-Image kann sehr dif­fe­ren­ziert sein und vie­le ver­schie­de­ne Fa­cet­ten ab­de­cken, so­dass teil­wei­se auch von gan­zen Mar­ken­wel­ten ge­spro­chen wird. Eben­so un­ter­schied­lich kön­nen die Wege sein, über die ein Image auf die Zie­le des Un­ter­neh­mens ein­zahlt und die um­ge­setz­ten Mar­ke­ting-Maß­nah­men für des­sen Auf­bau ei­nen Re­turn on In­vest ge­ne­rie­ren: Gibt die Mar­ke den Ver­brau­chern zum Bei­spiel in ers­ter Li­nie ein Qua­li­täts­ver­spre­chen, darf sie haupt­säch­lich als ein Si­gnal für eine nach­hal­ti­ge Pro­duk­ti­on be­trach­tet wer­den oder steht das iden­ti­täts­stif­ten­de An­ge­bot im Vor­der­grund, das sie den Kun­den macht? Un­ab­hän­gig von ih­rem kon­kre­ten In­halt ist aber stets wich­tig: Wenn Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on das Image und die Er­war­tungs­bil­dung auf Sei­ten der Sta­ke­hol­der be­ein­flus­sen will, muss sie über­zeu­gend sein. Und eine enorm wich­ti­ge Vor­aus­set­zung da­für ist, dass sie als au­then­tisch er­lebt wird. So ist es kein Wun­der, dass PR- und Mar­ke­ting­fach­leu­te be­son­ders eif­rig nach dem Au­then­ti­schen su­chen.

So­ci­al Me­dia stei­gern die An­for­de­run­gen an Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on

Mit den neu­en Kom­mu­ni­ka­ti­ons­po­ten­zia­len, die sich aus der Nut­zung von So­ci­al Me­dia er­ge­ben ha­ben, hat auch in die­sem Be­reich die Sen­si­bi­li­tät für die Fra­ge nach der Au­then­ti­zi­tät der Selbst­dar­stel­lung von Un­ter­neh­men noch ein­mal deut­lich zu­ge­nom­men. Über So­ci­al Me­dia kön­nen sich sehr viel dif­fe­ren­zier­te­re Er­war­tun­gen sta­bi­li­sie­ren, weil Un­ter­neh­men und Kun­den lang­fris­ti­ge und in­ten­si­ve­re In­ter­ak­ti­ons­be­zie­hun­gen pfle­gen kön­nen als dies zu­vor der Fall war. Da­durch stei­gen al­ler­dings auch die An­for­de­run­gen an die ge­mein­sa­me Be­zie­hung: So glau­ben bei­de Sei­ten nicht nur im­mer bes­ser zu wis­sen, was sie von­ein­an­der zu er­war­ten ha­ben, son­dern auch, was sie nicht von­ein­an­der zu er­war­ten ha­ben.

Je dich­ter das Er­war­tungs­ge­flecht ist, des­to ent­täu­schungs­an­fäl­li­ger ist auch die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Plötz­li­che Än­de­run­gen der Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Sei­ten des Un­ter­neh­mens und neue In­for­ma­tio­nen, die sich schwer in das bis­he­ri­ge Bild in­te­grie­ren las­sen, füh­ren schnell zu Zwei­feln: „Ver­biegt“ sich die Mar­ke zu­guns­ten ei­nes schnel­len Mar­ke­tin­ger­fol­ges? Oder – noch schlim­mer – ist sie mög­li­cher­wei­se gar nicht das, was sie zu sein vor­ge­ge­ben hat­te?

Jen­seits der Mess­bar­keit

Mit dem Be­deu­tungs­ge­winn von Au­then­ti­zi­tät und dem Auf­stieg des Be­griffs zum Mar­ke­ting-Buz­zword häu­fen sich in der Mar­ken­for­schung auch die Ver­su­che, den Grad wahr­ge­nom­me­ner Au­then­ti­zi­tät von Or­ga­ni­sa­tio­nen und Mar­ken zu er­mit­teln. Aus den un­ter­schied­li­chen Ein­schät­zun­gen der Sta­ke­hol­der ist die­ser je­doch schwer ab­zu­lei­ten. Da es sich um Zu­schrei­bun­gen von Per­so­nen han­delt, sind ihre Au­then­ti­zi­täts­be­wer­tun­gen ge­nau­so in­di­vi­du­ell, wie die Mo­ti­ve und In­ter­es­sen, die ihr Kauf­ver­hal­ten be­ein­flus­sen.

Dass eine Ver­all­ge­mei­ne­rung schwie­rig ist, weil der Ein­schät­zung je­weils spe­zi­fi­sche, ein­zig­ar­ti­ge Er­war­tungs­mus­ter an das Ech­te, Un­mit­tel­ba­re und Un­ver­fälsch­te zu­grun­de­lie­gen, zeigt auch eine Um­fra­ge der Agen­tur cohn&wolfe. Die­se bat 2013 in ei­ner Twit­ter-Um­fra­ge 12.000 Nut­zer um ihre De­fi­ni­ti­on ei­nes au­then­ti­schen Un­ter­neh­mens in 140 Zei­chen: Die Ant­wor­ten reich­ten von „True to its mis­si­on and va­lues“ über „in­no­va­ti­ve and con­sci­en­tious“ bis hin zu „A brand who­se pri­ma­ry con­cern is not to make mo­ney but to im­pro­ve things for ever­yo­ne“. Aber die Ant­wor­ten zei­gen nicht nur, wie sehr die Auf­fas­sun­gen von Per­son zu Per­son va­ri­ie­ren. Die Ent­schie­den­heit der Aus­sa­gen macht au­ßer­dem deut­lich, dass je­der Ein­zel­ne sei­ne per­sön­li­chen Kri­te­ri­en des­halb nicht we­ni­ger ernst nimmt. Hier zeigt sich die Be­deu­tung, die Au­then­ti­zi­tät in der heu­ti­gen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­rea­li­tät hat, noch ein­mal sehr deut­lich.

Wege zur Au­then­ti­zi­tät

Wie lässt sich nun der so wich­ti­ge au­then­ti­sche Ef­fekt er­zie­len? Um es ganz klar zu sa­gen: Be­wir­ken, im Sin­ne ei­ner Ur­sa­che-Wir­kungs-Re­la­ti­on, lässt sich der Ein­druck von Au­then­ti­zi­tät auf Sei­ten der Sta­ke­hol­der nicht. Ihre Re­ak­tio­nen auf die ei­ge­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gie sind nicht kon­trol­lier­bar. Den­noch kann ex­ter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on die Tat­sa­che im Auge be­hal­ten, dass es um ge­bün­del­te Er­war­tun­gen geht, vor de­nen das Ver­hal­ten der Or­ga­ni­sa­ti­on be­ur­teilt wird. Dar­aus er­ge­ben sich dann vor al­lem drei we­sent­li­che Punk­te.

1.) Kei­ne Angst vor In­sze­nie­rung

Es hat sich ge­zeigt, dass es im Zu­sam­men­hang mit Au­then­ti­zi­tät nicht dar­um ge­hen kann, sich von den Ur­tei­len und Be­dürf­nis­sen an­de­rer ab­zu­kop­peln. Im Ge­gen­teil: Eine so­zia­le Exis­tenz kann nur füh­ren, wer sich auf die da­mit ver­bun­de­ne ge­gen­sei­ti­ge Ab­hän­gig­keit ein­lässt. Hier­für muss man wis­sen, wel­che Er­war­tun­gen an­de­re an das ei­ge­ne Ver­hal­ten rich­ten und wie man ih­nen ent­spre­chen oder sie ent­täu­schen kann. Das macht die Kon­trol­le des ei­ge­nen Han­delns un­um­gäng­lich – und nichts an­de­res ist mit In­sze­nie­rung ge­meint. Zwi­schen Au­then­ti­zi­tät und In­sze­nie­rung be­steht also nur auf den ers­ten Blick ein Wi­der­spruch, ei­gent­lich sind die Treue zum ei­ge­nen Selbst und das all­täg­li­che Thea­ter­spie­len un­trenn­bar ver­bun­den. Es lässt sich so­gar ein Stei­ge­rungs­ver­hält­nis er­ken­nen: Je mehr Mög­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung ste­hen, Per­sön­lich­keit zu zei­gen, umso wich­ti­ger ist die Re­fle­xi­on über die Wir­kung des ei­ge­nen Ver­hal­tens auf an­de­re und die da­mit ver­bun­de­nen Ent­schei­dun­gen über die Wahl der ge­eig­ne­ten Mit­tel.

Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on ist des­halb nicht we­ni­ger au­then­tisch, weil sie in­ten­siv vor­be­rei­tet und mi­nu­ti­ös ge­plant wird. Sie ver­liert nicht an Echt­heit, weil sie kla­re Vor­stel­lun­gen über den Ein­satz un­ter­schied­li­cher Platt­for­men und Ka­nä­le hat und die da­für pas­sen­den In­hal­te wählt. Sie muss Vi­deobei­trä­ge nicht mit ei­ner wa­cke­li­gen Hand­ka­me­ra dre­hen, um den Ein­druck zu ver­mei­den, dass Pro­fis am Werk sind, die wis­sen was sie tun.

2.) Ver­su­che nicht au­then­tisch zu sein

Da­bei ist je­doch von Be­deu­tung, dass die In­sze­nie­rung Au­then­ti­zi­tät nicht zu stark be­tont oder gar als rei­ner Selbst­zweck be­trach­tet wird. Soll­te näm­lich der Ein­druck ent­ste­hen, das ei­ge­ne Ver­hal­ten wäre ex­pli­zit so ge­wählt, dass es als wahr­haf­tig be­wer­tet wird, wird da­mit das ge­naue Ge­gen­teil be­wirkt: Ge­ra­de die in der Mit­tei­lung ent­hal­te­ne Her­vor­he­bung ei­ner Treue zum ei­ge­nen Selbst sät dann den Zwei­fel und wirft die Fra­ge auf, war­um dies über­haupt ex­pli­zit er­wähnt wer­den muss und wel­che ei­gent­li­chen Mo­ti­ve hin­ter dem Ver­hal­ten ver­bor­gen lie­gen. Au­then­tisch kann also nur der wir­ken, wer nicht den Ein­druck er­zeugt, vor al­lem dies zu wol­len. Des­halb hält man es am bes­ten mit dem Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Lio­nel Tril­ling, der Au­then­ti­zi­tät zu den Wor­ten zählt, „über die man bes­ser nicht re­det, wenn sie die Kraft ih­res Sin­nes nicht ein­bü­ßen sol­len“.

3.) Ver­än­de­run­gen brau­chen Zeit

Au­ßer­dem ver­mei­det Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on auf die­se Wei­se auch ei­nen per­for­ma­ti­ven Wi­der­spruch, in den sie ge­rät, wenn sie ihre Stra­te­gie zu ab­rupt an­passt: Denn eine um­fang­rei­che Ver­hal­tens­än­de­rung im Ver­such, mög­lichst au­then­tisch zu sein, führt zwangs­läu­fig in eine Dis­kre­panz zu den bis­he­ri­gen Er­war­tun­gen der Sta­ke­hol­der und läuft dann umso mehr Ge­fahr, als un­au­then­tisch wahr­ge­nom­men wer­den.

Statt­des­sen soll­te für die Um­set­zung von Stra­te­gie­än­de­run­gen aus­rei­chend Zeit ein­ge­plant wer­den. Wenn sich der Ein­druck von Au­then­ti­zi­tät dar­aus er­gibt, dass die Kom­mu­ni­ka­ti­on von Per­so­nen oder Or­ga­ni­sa­tio­nen be­stimm­ten Er­war­tun­gen ent­spricht, die ih­nen ge­gen­über be­stehen, sind über­ra­schen­de Kurs­än­de­run­gen na­tür­lich hei­kel. Ins­be­son­de­re dann, wenn sich die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gie in we­sent­li­chen Punk­ten än­dert, wenn zum Bei­spiel eine Kam­pa­gne das Cor­po­ra­te Image ver­bes­sern oder eine Mar­ke ver­jün­gen soll, ist die Fra­ge nach der Au­then­ti­zi­tät fast un­ver­meid­lich: Drückt die neue Selbst­dar­stel­lung tat­säch­lich ein ver­än­der­tes Selbst­ver­ständ­nis aus oder ist das rei­ne Rhe­to­rik? Es ist leicht nach­voll­zieh­bar, dass sol­che Ver­än­de­run­gen Zeit brau­chen — die Er­war­tun­gen von Sta­ke­hol­dern müs­sen sich an­pas­sen. Und dies dau­ert umso län­ger, je grund­le­gen­der die Ver­än­de­run­gen sind.

Zum Wei­ter­le­sen

Goff­man, Er­ving (1969): Wir alle spie­len Thea­ter. Selbst­dar­stel­lung im All­tag. Mün­chen: Pi­per Ver­lag GmbH.

Le­then, Hel­mut (2012): Ver­sio­nen des Au­then­ti­schen: sechs Ge­mein­plät­ze. In: Böh­me, Hartmut/​Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Li­te­ra­tur und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. Po­si­tio­nen, Theo­ri­en, Mo­del­le. Rein­bek bei Ham­burg: Roh­wolt Ta­schen­buch Ver­lag GmbH. 205–231.

Tril­ling, Lio­nel (1980): Das Ende der Auf­rich­tig­keit. Mün­chen und Wien: Carl Han­ser Ver­lag.

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