MODUL 3: Shitstorms verstehen
1. Case → 2. Insight → 3. Deep Lecture
Wer hat Angst vorm Shitstorm?
Shitstorms sind ein gefürchtetes Phänomen, das das Image eines Unternehmens nachhaltig schädigen kann. Wie aber kommt es eigentlich zu einer solchen Eskalation in den Social Media? Mithilfe von Konflikt- und Medientheorie lässt sich die Dynamik dahinter verstehen – und was es dringend zu vermeiden gilt, wenn sich ein Shitstorm zusammenbraut.
von Anna-Lisa Menck und Stephan Frühwirt
„Wer hat Angst vorm Shitstorm?“ „Jeder!“ „Und wenn er kommt?“ „Dann laufen wir“ – und zwar in der Regel zu entsprechend spezialisierten PR-Agenturen. Ob diese ihre Versprechen eines erfolgreichen Krisenmanagements einhalten können, ist jedoch mehr als fraglich. Denn die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten von Kommunikation in den Social Media sind generell sehr bescheiden.
Umso wichtiger ist es, dass Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation selbst zu Experten werden, frühzeitig reagieren können und in einer solchen Situation, die kein pauschales Richtig kennt, zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit Falsches vermeiden: Braut sich plötzlich ein heftiger Gewittersturm zusammen, mag man zwar nicht immer in der Lage sein, sich ins Trockene zu retten, wohl aber, nicht noch auf den nächstgelegenen Berg zu klettern.
Foto: skeeze, Quelle, Lizenz: CC0 Public Domain
Shitstorms: Eskalierende Konflikte im Internet
Während wir Unwetter meteorologisch schon lange sehr genau erklären und mit einer gewissen Treffsicherheit vorhersagen können, ist der Shitstorm noch ein verhältnismäßig neues Phänomen auf unseren Beobachtungs-Radaren. Als Shitstorms werden eskalierende Konflikte im Internet bezeichnet. Geläufig ist der Begriff in diesem Sinne erst seit 2010, mittlerweile kann er aber bereits auf eine steile Karriere zurückblicken: 2011 wird er, obwohl im Englischen lediglich fäkalsprachlich brenzlige Situationen im Allgemeinen bezeichnend, zum Anglizismus des Jahres gekürt. Schnell kennt ihn sogar der Duden – und zwar als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Gibt man fünf Jahre später „Shitstorm” bei Google ein, kommt die Suchmaschine auf fast zwei Millionen deutschsprachige Ergebnisse. Zum Vergleich: „Niedliche Katzenbabys” erzielt nur 62.000 Treffer.
Bildschirmfoto: Google Suche, Quelle
Rein theoretisch: Was ist eigentlich ein Konflikt?
Fest steht also: Shitstorms, online eskalierende Konflikte, sind eine große Sache. Will man das im Social-Media-Kontext so relevante Phänomen verstehen, stellt sich zunächst einmal die Frage, was genau ein Konflikt eigentlich ist. Plakativ ausgedrückt, ist ein Konflikt ein Nein zu einem Nein, die Negation der Negation. Konflikte entstehen dann, wenn es in der Kommunikation zu Äußerungen kommt, die vorausgesetzten Erwartungen widersprechen und ein Nein mit einem Gegen-Nein beantwortet wird. Die Versuchung, dann bei dem Nein zu bleiben und es auf beiden Seiten immer weiter zu verstärken, ist groß.
Tritt dieser Fall ein, erreicht der Konflikt immer höhere Eskalationsstufen. Durch immer explizitere und schärfere Drohungen und entsprechend darauf folgende Strafaktionen versucht eine Konfliktpartei, die andere zur Kapitulation zu bewegen. Gelingt dies nicht, wächst sich ein solcher Streit, der mit der Verhärtung zweier Standpunkte begonnen hat, in der Regel zu einem zerstörerischen (verbalen) Krieg aus, der beide Parteien am Ende „gemeinsam in den Abgrund” führt.
Dabei tendiert der Konflikt dazu, ein eigenständiges System zu bilden: Die ganze Aufmerksamkeit und alle verfügbaren Ressourcen der Interaktion gelten dann nur noch ihm. Darüber hinaus verlagert sich der Konflikt in seinem Verlauf in der Regel zunehmend von der Sachebene hin zur sogenannten Sozialdimension. Das heißt, wurde zunächst noch eine bestimmte Sachfrage verhandelt, steht schnell die Frage nach der Art der Beziehung, die in der Kommunikation immer mitläuft, im Vordergrund. Damit geht zumeist auch eine Beschleunigung der Konfliktdynamik einher. Die Zeiträume zwischen Entscheidungen und Handlungen, Reaktionen und Gegenreaktionen werden mit jeder Eskalationsstufe kürzer.
Ein kinderleichtes Beispiel: Der Sandkastenstreit
Soviel zur Theorie. Diese lässt sich am besten an einem ‚kinderleichten’ Beispiel veranschaulichen – mit einem Blick in einen Sandkasten.
Shitstormpraxis: Der Kitkat-Fall im Spiegel der Konflikttheorie
Auch im Beispiel des KitKat-Shitstorms aus dem Case findet sich die beschriebene Konfliktdynamik wieder.
Bildschirmfoto: YouTube, Quelle
Den Beginn dieses Konflikts kennzeichnet die von Greenpeace in der Kampagne ausgesprochene Erwartung an Nestlé, den Bezug des Palmöls von Umwelt zerstörenden Produzenten zu stoppen. Die Antwort von Nestlé auf das Nein zu diesem Palmöl ist wiederum ein Nein zu der Kampagne – geäußert in einer drastischen Form, nämlich durch die Veranlassung, das Schock- Video mit dem Orang-Utan-Finger von YouTube zu löschen.
Seinen Namen verdankt das Phänomen der Schauspielerin und Sängerin Barbara Streisand, die 2003 vergeblich versuchte, den Fotografen Kenneth Adelman zu verklagen. Dieser hatte für ein Dokumentations-Projekt zur Erosion der kalifornischen Küste ein Bild von ihrem Strandhaus geschossen und weigerte sich, das Foto – als eines von vielen – von seiner Website zu nehmen. Während vorher wohl kaum jemand eine Verbindung zwischen diesem einen Anwesen und Barbara Streisand gezogen hätte, erlangten das Bild des Hauses und seine Eigentümerin durch den Rechtsstreit große Berühmtheit. Es war also erst der Zensurversuch, das Bestreben, genau dem vorzubeugen, der das Haus und die Zuordnung zu Barbara Streisand für die Öffentlichkeit interessant machte.
Foto mit Markierung: Kenneth & Gabrielle Adelman, California Coastal Records Project, Quelle, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Jetzt neu: Was Shitstorms so brisant macht
Natürlich war der PR-Alptraum, in dem sich Nestlés Social Media-Verantwortliche plötzlich wiederfanden, von Greenpeace sorgfältig vorbereitet. Der Schlüssel zu dessen Ausmaß liegt aber weniger in der umfassenden Kampagnen-Organisation, die sich etwa durch eine geschickte Verknüpfung von Online- und Offline-Medien auszeichnete und so immer neue Reaktionskaskaden in den Social Media und darauffolgende Berichte in den Massenmedien provozierte. Ebenso wenig eignet sich das Schock-Video allein als grundlegende Erklärung für die Wucht dieses Shitstorms. Auch wenn es die Komplexität der Palmölproduktion gekonnt auf das eine Produkt und die eine gefährdete Tierart reduziert und dabei moralische, ethische, ökonomische, politische und vor allem emotionale Bewertungen wie Ekel, Scham, Trauer und Wut evoziert. Das wesentliche Moment sind vielmehr die spezifischen Interaktionsbedingungen der Social Media.
Fehlende Dämpfungsfaktoren
Im Unterschied zu den klassischen Massenmedien fehlen im Internet wesentliche Dämpfungsfaktoren, die vor dem digitalen Zeitalter öffentliche Eskalationen bei einer Auseinandersetzung zwischen Verbrauchern und einem Unternehmen selbst im Fall hoher Konfliktpotenziale verhindert oder doch abgeschwächt hatten. In den Social Media eskalieren Konflikte – sofern ausreichend viel auslösende Motivation bei genügend Kommunikationsteilnehmern vorhanden ist – deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit, weil sich in kürzester Zeit eine unbegrenzt große Zahl an Nutzern an der Auseinandersetzung beteiligen kann und ein dabei mitunter entstehender breiter Konsens Radikalisierungstendenzen verstärkt.
Das Ende der geschlossenen Gesellschaft
In den Massenmedien ist für die individuellen Einschätzungen auf Seiten des Publikums kein Platz. Anders als auf Facebook, Twitter und Co können nicht hunderttausend Zeitungsleser explizit zustimmen, wenn sich ein Journalist über etwas empört. Zu den Pinnwänden, Threads und Hashtags der Social Media hingegen haben alle Nutzer Zugang. Hier kann auch im Konflikt mit einem Unternehmen jeder enttäuschte Kunde seinen Ärger öffentlich äußern.
Der so entstehende Konsens stärkt zum einen die Ausdauer der beteiligten Nutzer: Einer allein würde das Nein vielleicht nicht sehr lange durchhalten, schreit es dem betroffenen Unternehmen aber aus massenhaften, weiteren Einträgen entgegen, hat der Einzelne das Gefühl, den Streit mit gewinnen zu können und dabei auf der richtigen Seite zu stehen. Zum anderen führt die breite Unterstützung aber auch dazu, dass sich die Meinungen leichter radikalisieren und der Konflikt damit eskaliert. Wenn sich Zehn- oder Hunderttausende gemeinsam ärgern, birgt in dieser Echokammer jeder Streit das Potenzial, ungeahnte Ausmaße zu erreichen.
Die Zeit heilt keine Wunden
Neben dem begrenzten Zugang zur Publikationsmacht entfällt im Internet ein weiterer entscheidender Konfliktdämpfungsfaktor, der vielfach unterschätzt wird: die Zeit. Dabei ist die Frequenz, mit der die Streitenden auf den jeweils anderen reagieren können, von einer ganz wesentlichen Bedeutung. Je schwerwiegender die Auseinandersetzung wird, je stärker sich emotionale Komponenten auf die Motivation der Beteiligten auswirken, umso dringlicher muss jede Aktion des anderen entsprechend beantwortet werden. Wer wütend ist, hat keine Zeit – oder anders herum: über die Zeit kühlen sich erhitzte Gemüter in der Regel ab. In den Massenmedien hatte sich noch der größte Ärger den Produktions- und Redaktionsplänen zu unterwerfen, konnte ein Nein auf ein Nein erst in der nächsten Sendung, der nächsten Ausgabe oder mit der nächsten Auflage erscheinen. In den Social Media gehen die Zwangspausen im Konflikt dagegen gegen Null. W‑LAN und mobiles Internet ermöglichen jedem Nutzer eine sofortige Reaktion in Echtzeit – unabhängig davon, wo er sich gerade befindet oder wie viele andere gleichzeitig ihre Meinung äußern. Hier können alle wütend durcheinander schimpfen, ohne sich gegenseitig zu unterbrechen.
Die Meinung der Anderen
Im Gegensatz zum oft vernachlässigten Faktor Zeit wird die Rolle, die anonyme Äußerungen für die Eskalation eines Konflikts mit einem Unternehmen spielen, vielfach überschätzt. Die meisten Erklärungsansätze sprechen der Möglichkeit der Social-Media-Nutzer, aus einer schützenden Anonymität heraus bewusst besonders ausfallend zu werden, einen hohen Stellenwert zu. Während dies für artverwandte Internet-Phänomene wie Cybermobbing oder Hate Speech durchaus von großer Bedeutung ist, halten aber nur wenige Nutzer, die sich an einem Shitstorm gegen ein Unternehmen beteiligen, ihre Identität geheim. Selbst Pseudonyme sind eher in der Minderheit: Oft grüßen vor den krassesten Beleidigungen der Klarname und ein Foto des Verfassers. Das Gefühl, mit der wütend geäußerten Kritik im Recht und Teil eines breiten Konsens zu sein, ist offenbar Schutz genug und ersetzt hier die Anonymität. Zwar sind Beleidigungen auch im Internet strafrechtlich relevant. Jedoch haben die Nutzer unter solchen Umständen kaum Konsequenzen für ihr Handeln zu befürchten. So bietet ein sich anbahnender Shitstorm allen Beteiligten die Gelegenheit – im wahrsten, wenn auch nicht eigentlichen Wortsinn – einfach einmal auf gesellschaftlich erwartete Umgangsformen und Netiquette-Regelungen ‘zu scheißen’ und völlig enthemmt draufloszuschimpfen.
Social Media als Eskalationskatalysatoren
Alles in allem fungieren die Social Media somit im Ernstfall als Katalysatoren der Konflikteskalation. Für die Unternehmenskommunikation ist eine solche Eskalation deshalb besonders brisant, weil sich der Streit dann zunehmend auf der Beziehungsebene abspielt: Nicht mehr ein einzelnes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung steht in der Kritik, sondern das Unternehmen insgesamt ist Ziel der Angriffe.
Und wenn der Shitstorm kommt?
Wie also mit diesem Risiko umgehen? Was ist die Antwort auf die Frage: „Und wenn der Shitstorm kommt?“ Klar ist, dass sich Onlinekonflikte und auch deren Eskalation nicht verhindern lassen, sofern ausreichend viel Wut und Aufmerksamkeit auf Seiten der Social Media-Nutzer vorhanden ist. Dennoch können Organisationen bestimmte Fehler vermeiden, mit denen sie selbst zu einer Eskalation beitragen würden. Externe Kommunikation sollte:
Denn solche Verhaltensweisen widersprechen den Erwartungen der Nutzer, dass ihre Beiträge beachtet und ernstgenommen werden. Dies empört sehr wahrscheinlich sogar jene, die sich für das ursprüngliche Problem überhaupt nicht interessiert oder sogar auf der Seite des Unternehmens gestanden hatten. Zudem sollte externe Kommunikation:
Auf diese Weise nämlich verschiebt sich der Streit von einer ursprünglich sachlichen Frage auf jeden Fall auf das nächsthöhere Eskalationsniveau. Dies macht einerseits eine zügige Beilegung des Konflikts zunehmend unwahrscheinlicher und sorgt andererseits für schwerwiegendere Imageschäden.
Zum Weiterlesen
Bernhard Pörksen u. Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Köln: Halem 2012.
Fritz B. Simon: Einführung in die Systemtheorie des Konflikts. Heidelberg: Auer 2015.