Wer hat Angst vorm Shit­s­torm?2019-02-12T12:23:50+02:00

MO­DUL 3: Shit­s­torms ver­ste­hen

1. Case      2. In­sight    3. Deep Lec­tu­re

Wer hat Angst vorm Shit­s­torm?

Shit­s­torms sind ein ge­fürch­te­tes Phä­no­men, das das Image ei­nes Un­ter­neh­mens nach­hal­tig schä­di­gen kann. Wie aber kommt es ei­gent­lich zu ei­ner sol­chen Es­ka­la­ti­on in den So­ci­al Me­dia? Mit­hil­fe von Kon­flikt- und Me­di­en­theo­rie lässt sich die Dy­na­mik da­hin­ter ver­ste­hen – und was es drin­gend zu ver­mei­den gilt, wenn sich ein Shit­s­torm zu­sam­men­braut.

von Anna-Lisa Menck und Ste­phan Früh­wirt

Wer hat Angst vorm Shit­s­torm?“ „Je­der!“ „Und wenn er kommt?“ „Dann lau­fen wir“ – und zwar in der Re­gel zu ent­spre­chend spe­zia­li­sier­ten PR-Agen­tu­ren. Ob die­se ihre Ver­spre­chen ei­nes er­folg­rei­chen Kri­sen­ma­nage­ments ein­hal­ten kön­nen, ist je­doch mehr als frag­lich. Denn die Steue­rungs- und Kon­troll­mög­lich­kei­ten von Kom­mu­ni­ka­ti­on in den So­ci­al Me­dia sind ge­ne­rell sehr be­schei­den.

Umso wich­ti­ger ist es, dass Mit­ar­bei­ter der Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on selbst zu Ex­per­ten wer­den, früh­zei­tig re­agie­ren kön­nen und in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on, die kein pau­scha­les Rich­tig kennt, zu­min­dest mit ho­her Wahr­schein­lich­keit Fal­sches ver­mei­den: Braut sich plötz­lich ein hef­ti­ger Ge­wit­ter­sturm zu­sam­men, mag man zwar nicht im­mer in der Lage sein, sich ins Tro­cke­ne zu ret­ten, wohl aber, nicht noch auf den nächst­ge­le­ge­nen Berg zu klet­tern.

Foto: skee­ze, Quel­le, Li­zenz: CC0 Pu­blic Do­main

Shit­s­torms: Es­ka­lie­ren­de Kon­flik­te im In­ter­net

Wäh­rend wir Un­wet­ter me­teo­ro­lo­gisch schon lan­ge sehr ge­nau er­klä­ren und mit ei­ner ge­wis­sen Treff­si­cher­heit  vor­her­sa­gen kön­nen, ist der Shit­s­torm noch ein ver­hält­nis­mä­ßig neu­es Phä­no­men auf un­se­ren Be­ob­ach­tungs-Ra­dar­en. Als Shit­s­torms wer­den es­ka­lie­ren­de Kon­flik­te im In­ter­net be­zeich­net. Ge­läu­fig ist der Be­griff in die­sem Sin­ne erst seit 2010, mitt­ler­wei­le kann er aber be­reits auf eine stei­le Kar­rie­re zu­rück­bli­cken: 2011 wird er, ob­wohl im Eng­li­schen le­dig­lich fä­kal­sprach­lich brenz­li­ge Si­tua­tio­nen im All­ge­mei­nen be­zeich­nend, zum An­gli­zis­mus des Jah­res ge­kürt. Schnell kennt ihn so­gar der Du­den – und zwar als „Sturm der Ent­rüs­tung in ei­nem Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­um des In­ter­nets, der zum Teil mit be­lei­di­gen­den Äu­ße­run­gen ein­her­geht“. Gibt man fünf Jah­re spä­ter „Shit­s­torm” bei Goog­le ein, kommt die Such­ma­schi­ne auf fast zwei Mil­lio­nen deutsch­spra­chi­ge Er­geb­nis­se. Zum Ver­gleich: „Nied­li­che Kat­zen­ba­bys” er­zielt nur 62.000 Tref­fer.

Bild­schirm­fo­to: Goog­le Su­che, Quel­le

Rein theo­re­tisch: Was ist ei­gent­lich ein Kon­flikt?

Fest steht also: Shit­s­torms, on­line es­ka­lie­ren­de Kon­flik­te, sind eine gro­ße Sa­che. Will man das im So­ci­al-Me­dia-Kon­text so re­le­van­te Phä­no­men ver­ste­hen, stellt sich zu­nächst ein­mal die Fra­ge, was ge­nau ein Kon­flikt ei­gent­lich ist. Pla­ka­tiv aus­ge­drückt, ist ein Kon­flikt ein Nein zu ei­nem Nein, die Ne­ga­ti­on der Ne­ga­ti­on. Kon­flik­te ent­ste­hen dann, wenn es in der Kom­mu­ni­ka­ti­on zu Äu­ße­run­gen kommt, die vor­aus­ge­setz­ten Er­war­tun­gen wi­der­spre­chen und ein Nein mit ei­nem Ge­gen-Nein be­ant­wor­tet wird. Die Ver­su­chung, dann bei dem Nein zu blei­ben und es auf bei­den Sei­ten im­mer wei­ter zu ver­stär­ken, ist groß.

Tritt die­ser Fall ein, er­reicht der Kon­flikt im­mer hö­he­re Es­ka­la­ti­ons­stu­fen. Durch im­mer ex­pli­zi­te­re und schär­fe­re Dro­hun­gen und ent­spre­chend dar­auf fol­gen­de Straf­ak­tio­nen ver­sucht eine Kon­flikt­par­tei, die an­de­re zur Ka­pi­tu­la­ti­on zu be­we­gen. Ge­lingt dies nicht, wächst sich ein sol­cher Streit, der mit der Ver­här­tung zwei­er Stand­punk­te be­gon­nen hat, in der Re­gel zu ei­nem zer­stö­re­ri­schen (ver­ba­len) Krieg aus, der bei­de Par­tei­en am Ende „ge­mein­sam in den Ab­grund” führt.

Da­bei ten­diert der Kon­flikt dazu, ein ei­gen­stän­di­ges Sys­tem zu bil­den: Die gan­ze Auf­merk­sam­keit und alle ver­füg­ba­ren Res­sour­cen der In­ter­ak­ti­on gel­ten dann nur noch ihm. Dar­über hin­aus ver­la­gert sich der Kon­flikt in sei­nem Ver­lauf in der Re­gel zu­neh­mend von der Sa­ch­ebe­ne hin zur so­ge­nann­ten So­zi­al­di­men­si­on. Das heißt, wur­de zu­nächst noch eine be­stimm­te Sach­fra­ge ver­han­delt, steht schnell die Fra­ge nach der Art der Be­zie­hung, die in der Kom­mu­ni­ka­ti­on im­mer mit­läuft, im Vor­der­grund. Da­mit geht zu­meist auch eine Be­schleu­ni­gung der Kon­flikt­dy­na­mik ein­her. Die Zeit­räu­me zwi­schen Ent­schei­dun­gen und Hand­lun­gen, Re­ak­tio­nen und Ge­gen­re­ak­tio­nen wer­den mit je­der Es­ka­la­ti­ons­stu­fe kür­zer.

Ein kin­der­leich­tes Bei­spiel: Der Sand­kas­ten­streit

So­viel zur Theo­rie. Die­se lässt sich am bes­ten an ei­nem ‚kin­der­leich­ten’ Bei­spiel ver­an­schau­li­chen – mit ei­nem Blick in ei­nen Sand­kas­ten.

„Ich will jetzt auch ein­mal die gro­ße Schau­fel ha­ben!“ „Nein! Das ist mei­ne!“ „Dann darfst du aber auch mei­nen Ei­mer nicht mehr be­nut­zen!“ „Aber du trotz­dem nicht die Schau­fel! Und das Förm­chen auch nicht!“ Da­mit ist das ge­mein­sa­me Spiel fürs ers­te be­en­det – der Streit be­herrscht nun das ge­sam­te Mit­ein­an­der. Lenkt kei­ne der Ju­ni­or-Kon­flikt­par­tei­en ein, en­det er nicht sel­ten mit dem Ab­bruch der In­ter­ak­ti­on: „Dann spie­le ich über­haupt nicht mehr mit dir!“ Oder er schau­kelt sich wei­ter hoch: Ge­gen­sei­ti­ge Be­lei­di­gun­gen und wüs­te Dro­hun­gen tö­nen über den gan­zen Spiel­platz. Ging es eben noch um die Sach­fra­ge, wer mit der Schau­fel spie­len darf, rückt nun die Be­zie­hungs­ebe­ne in den Vor­der­grund: „Du bist im­mer voll ge­mein!“ „Und du bist doof!“ auf Wor­te fol­gen schließ­lich Ta­ten. Wut­ent­brannt wird das sorg­fäl­tig er­rich­te­te Türm­chen des Geg­ners zer­tram­pelt. Der wie­der­um ent­deckt dar­auf­hin, dass sich sei­ne Schau­fel auch her­vor­ra­gend zum Zu­hau­en eig­net und am Ende sit­zen bei­de heu­lend zwi­schen den Trüm­mern der ge­mein­sa­men Sand­burg. In sel­te­ne­ren Fäl­len zieht sich der eine lie­ber frü­her oder spä­ter auf die Rut­sche zu­rück oder sucht wei­nend Schutz in Ma­mas trös­ten­den Ar­men, wäh­rend der an­de­re tri­um­phie­rend Schau­fel und Ei­mer in der Hand hält. Ei­nen Spiel­ka­me­ra­den je­doch hat er dann nicht mehr.
Foto: Ger­ry Tho­ma­sen, Quel­le, Li­zenz: CC BY 2.0

Shit­s­torm­pra­xis: Der Kit­kat-Fall im Spie­gel der Kon­flikt­theo­rie

Auch im Bei­spiel des Kit­Kat-Shit­s­torms aus dem Case fin­det sich die be­schrie­be­ne Kon­flikt­dy­na­mik wie­der.

Bild­schirm­fo­to: You­Tube, Quel­le

Den Be­ginn die­ses Kon­flikts kenn­zeich­net die von Green­peace in der Kam­pa­gne aus­ge­spro­che­ne Er­war­tung an Nest­lé, den Be­zug des Palm­öls von Um­welt zer­stö­ren­den Pro­du­zen­ten zu stop­pen. Die Ant­wort von Nest­lé auf das Nein zu die­sem Palm­öl ist wie­der­um ein Nein zu der Kam­pa­gne – ge­äu­ßert in ei­ner dras­ti­schen Form, näm­lich durch die Ver­an­las­sung, das Schock- Vi­deo mit dem Orang-Utan-Fin­ger von You­Tube zu lö­schen.

Der un­be­hol­fe­ne Kon­troll­ver­such be­wirkt je­doch das ge­naue Ge­gen­teil und sorgt für den of­fen­sicht­li­chen Kon­troll­ver­lust. Denn die Em­pö­rung über die Zen­sur ist so groß, dass das Vi­deo nun vi­ral auf al­len mög­li­chen Platt­for­men neu hoch­ge­la­den und tau­send­fach ge­teilt wird. Die­ses kom­mu­ni­ka­ti­ve Pa­ra­do­xon be­zeich­net man auch als Strei­sand-Ef­fekt.
Sei­nen Na­men ver­dankt das Phä­no­men der Schau­spie­le­rin und Sän­ge­rin Bar­ba­ra Strei­sand, die 2003 ver­geb­lich ver­such­te, den Fo­to­gra­fen Ken­neth Adel­man zu ver­kla­gen. Die­ser hat­te für ein Do­ku­men­ta­ti­ons-Pro­jekt zur Ero­si­on der ka­li­for­ni­schen Küs­te ein Bild von ih­rem Strand­haus ge­schos­sen und wei­ger­te sich, das Foto – als ei­nes von vie­len – von sei­ner Web­site zu neh­men. Wäh­rend vor­her wohl kaum je­mand eine Ver­bin­dung zwi­schen die­sem ei­nen An­we­sen und Bar­ba­ra Strei­sand ge­zo­gen hät­te, er­lang­ten das Bild des Hau­ses und sei­ne Ei­gen­tü­me­rin durch den Rechts­streit gro­ße Be­rühmt­heit. Es war also erst der Zen­sur­ver­such, das Be­stre­ben, ge­nau dem vor­zu­beu­gen, der das Haus und die Zu­ord­nung zu Bar­ba­ra Strei­sand für die Öf­fent­lich­keit in­ter­es­sant mach­te.
Foto mit Mar­kie­rung: Ken­neth & Ga­bri­el­le Adel­man, Ca­li­for­nia Co­as­tal Re­cords Pro­ject, Quel­le, Li­zenz: CC BY-SA 3.0
Die eng­lisch­spra­chi­ge Kit­kat-Face­book-Sei­te, das so­zia­le Sys­tem, das ei­gent­lich als Teil des Mar­ke­tings der In­ter­ak­ti­on mit den Kit­kat-Kun­den die­nen soll, wird der­weil mehr und mehr zum Kriegs­schau­platz. Zu­nächst eta­bliert sich das Kon­flikt­sys­tem in ein­zel­nen Posts und lässt sich von an­de­rer Kom­mu­ni­ka­ti­on klar ab­gren­zen, die par­al­lel noch auf der Sei­te statt­fin­det. Wie die ge­frä­ßi­gen Flam­men ei­nes Busch­feu­ers steckt der Kon­flikt aber auch die schnell in Brand. Zu­se­hends ver­här­ten sich die Fron­ten auf bei­den Sei­ten. Statt auf die ver­är­ger­ten Kon­su­men­ten ein­zu­ge­hen und den Dia­log zu su­chen, ent­schei­den sich die So­ci­al-Me­dia-Ver­ant­wort­li­chen für eine an­de­re Stra­te­gie: Sie wei­sen die Vor­wür­fe barsch und zum Teil be­lei­di­gend zu­rück, be­dan­ken sich in iro­ni­schem Ton für die Be­leh­run­gen, lö­schen ei­ni­ge Bei­trä­ge und dro­hen Pro­fi­le mit ei­nem „Killer“-Schriftzug im Stil des Kit­kat-Lo­gos von der Sei­te aus­zu­schlie­ßen. Das heizt die Em­pö­rung noch wei­ter an. Eine In­ter­ak­ti­on mit dem Kun­den im Sin­ne des Mar­ke­tings ist nun nicht mehr mög­lich. Das so­zia­le In­ter­ak­ti­ons­sys­tem ist zu ei­nem Kon­flikt­sys­tem ge­wor­den.
Die Kon­se­quenz, die die So­ci­al-Me­dia-Ver­ant­wort­li­chen dar­aus zie­hen, ist fa­tal. Als sie die Sei­te kur­zer­hand kom­plett vom Netz neh­men, sorgt das er­neut für ei­nen Strei­sand-Ef­fekt und für noch mehr der un­er­wünsch­ten Auf­merk­sam­keit. Nun bricht sich der Kon­flikt auf der all­ge­mei­nen Nest­lé-Fan­page Bahn. Der vom Kon­zern ge­such­te Lö­sungs­weg folgt dem Prin­zip ‚ge­mein­sam in dem Ab­grund’. Das Mot­to gleicht da­bei dem des es­ka­lier­ten Sand­kas­ten­streits: „Wenn ihr Kon­su­men­ten nicht nach un­se­ren Re­geln spie­len wollt und uns statt­des­sen die Blüm­chen auf un­se­rer So­ci­al-Me­dia-Wie­se zer­tram­pelt, dann spie­len wir eben gar nicht mehr mit­ein­an­der.“ Doch in den so­zia­len On­line-Netz­wer­ken ist die­se Stra­te­gie in den al­ler­meis­ten Fäl­len von vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt. Denn das ‚ge­mein­sam in den Abgrund’-Prinzip funk­tio­niert nur da, wo es han­deln­de Ein­hei­ten gibt, zum Bei­spiel ein­zel­ne Per­so­nen oder Na­tio­nen. Die So­ci­al Me­dia-Nut­zer stel­len aber kei­ne sol­che Ein­heit dar. Folg­lich kann man sich auch nicht von ih­nen tren­nen, wie etwa von ei­nem un­ko­ope­ra­ti­ven Mit­ar­bei­ter, dem man nach zu vie­len Strei­te­rei­en kün­digt.
Je mehr Fahrt der Kon­flikt auf der Nest­lé-Fan­page und an­de­ren Platt­for­men auf­nimmt, des­to deut­li­cher ist auch die Ver­schie­bung von der Sach­di­men­si­on hin zur So­zi­al­di­men­si­on zu er­ken­nen: Wäh­rend zu Be­ginn die For­de­rung nach­hal­ti­ge­rer Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen dis­ku­tiert wur­de, ru­fen Ak­ti­vis­ten und ent­täusch­te Ver­brau­cher jetzt zum Boy­kott al­ler Nest­lé-Pro­duk­te auf. Es geht also nicht mehr um eine kon­kre­te Sach­fra­ge, son­dern um die Be­zie­hung der Kun­den zum ge­sam­ten Kon­zern – ge­nau­er: dar­um, die­se öf­fent­lich­keits­wirk­sam zu be­en­den. Ein ge­wal­ti­ger Image-Scha­den und ein ab­so­lu­ter PR-Alp­traum!

Jetzt neu: Was Shit­s­torms so bri­sant macht

Na­tür­lich war der PR-Alp­traum, in dem sich Nest­lés So­ci­al Me­dia-Ver­ant­wort­li­che plötz­lich wie­der­fan­den, von Green­peace sorg­fäl­tig vor­be­rei­tet. Der Schlüs­sel zu des­sen Aus­maß liegt aber we­ni­ger in der um­fas­sen­den Kam­pa­gnen-Or­ga­ni­sa­ti­on, die sich etwa durch eine ge­schick­te Ver­knüp­fung von On­line- und Off­line-Me­di­en aus­zeich­ne­te und so im­mer neue Re­ak­ti­ons­kas­ka­den in den So­ci­al Me­dia und dar­auf­fol­gen­de Be­rich­te in den Mas­sen­me­di­en pro­vo­zier­te. Eben­so we­nig eig­net sich das Schock-Vi­deo al­lein als grund­le­gen­de Er­klä­rung für die Wucht die­ses Shit­s­torms. Auch wenn es die Kom­ple­xi­tät der Palm­öl­pro­duk­ti­on ge­konnt auf das eine Pro­dukt und die eine ge­fähr­de­te Tier­art re­du­ziert und da­bei mo­ra­li­sche, ethi­sche, öko­no­mi­sche, po­li­ti­sche und vor al­lem emo­tio­na­le Be­wer­tun­gen wie Ekel, Scham, Trau­er und Wut evo­ziert. Das we­sent­li­che Mo­ment sind viel­mehr die spe­zi­fi­schen In­ter­ak­ti­ons­be­din­gun­gen der So­ci­al Me­dia.

Feh­len­de Dämp­fungs­fak­to­ren

Im Un­ter­schied zu den klas­si­schen Mas­sen­me­di­en feh­len im In­ter­net we­sent­li­che Dämp­fungs­fak­to­ren, die vor dem di­gi­ta­len Zeit­al­ter öf­fent­li­che Es­ka­la­tio­nen bei ei­ner Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Ver­brau­chern und ei­nem Un­ter­neh­men selbst im Fall ho­her Kon­flikt­po­ten­zia­le ver­hin­dert oder doch ab­ge­schwächt hat­ten. In den So­ci­al Me­dia es­ka­lie­ren Kon­flik­te – so­fern aus­rei­chend viel aus­lö­sen­de Mo­ti­va­ti­on bei ge­nü­gend Kom­mu­ni­ka­ti­ons­teil­neh­mern vor­han­den ist – des­halb mit hö­he­rer Wahr­schein­lich­keit, weil sich in kür­zes­ter Zeit eine un­be­grenzt gro­ße Zahl an Nut­zern an der Aus­ein­an­der­set­zung be­tei­li­gen kann und ein da­bei mit­un­ter ent­ste­hen­der brei­ter Kon­sens Ra­di­ka­li­sie­rungs­ten­den­zen ver­stärkt.

Das Ende der ge­schlos­se­nen Ge­sell­schaft

In den Mas­sen­me­di­en ist für die in­di­vi­du­el­len Ein­schät­zun­gen auf Sei­ten des Pu­bli­kums kein Platz. An­ders als auf Face­book, Twit­ter und Co kön­nen nicht hun­dert­tau­send Zei­tungs­le­ser ex­pli­zit zu­stim­men, wenn sich ein Jour­na­list über et­was em­pört. Zu den Pinn­wän­den, Threads und Hash­tags der So­ci­al Me­dia hin­ge­gen ha­ben alle Nut­zer Zu­gang. Hier kann auch im Kon­flikt mit ei­nem Un­ter­neh­men je­der ent­täusch­te Kun­de sei­nen Är­ger öf­fent­lich äu­ßern.

Der so ent­ste­hen­de Kon­sens stärkt zum ei­nen die Aus­dau­er der be­tei­lig­ten Nut­zer: Ei­ner al­lein wür­de das Nein viel­leicht nicht sehr lan­ge durch­hal­ten, schreit es dem be­trof­fe­nen Un­ter­neh­men aber aus mas­sen­haf­ten, wei­te­ren Ein­trä­gen ent­ge­gen, hat der Ein­zel­ne das Ge­fühl, den Streit mit ge­win­nen zu kön­nen und da­bei auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen. Zum an­de­ren führt die brei­te Un­ter­stüt­zung aber auch dazu, dass sich die Mei­nun­gen leich­ter ra­di­ka­li­sie­ren und der Kon­flikt da­mit es­ka­liert. Wenn sich Zehn- oder Hun­dert­tau­sen­de ge­mein­sam är­gern, birgt in die­ser Echo­kam­mer je­der Streit das Po­ten­zi­al, un­ge­ahn­te Aus­ma­ße zu er­rei­chen.

Die Zeit heilt kei­ne Wun­den

Ne­ben dem be­grenz­ten Zu­gang zur Pu­bli­ka­ti­ons­macht ent­fällt im In­ter­net ein wei­te­rer ent­schei­den­der Kon­flikt­dämp­fungs­fak­tor, der viel­fach un­ter­schätzt wird: die Zeit. Da­bei ist die Fre­quenz, mit der die Strei­ten­den auf den je­weils an­de­ren re­agie­ren kön­nen, von ei­ner ganz we­sent­li­chen Be­deu­tung. Je schwer­wie­gen­der die Aus­ein­an­der­set­zung wird, je stär­ker sich emo­tio­na­le Kom­po­nen­ten auf die Mo­ti­va­ti­on der Be­tei­lig­ten aus­wir­ken, umso dring­li­cher muss jede Ak­ti­on des an­de­ren ent­spre­chend be­ant­wor­tet wer­den. Wer wü­tend ist, hat kei­ne Zeit – oder an­ders her­um: über die Zeit küh­len sich er­hitz­te Ge­mü­ter in der Re­gel ab. In den Mas­sen­me­di­en hat­te sich noch der größ­te Är­ger den Pro­duk­ti­ons- und Re­dak­ti­ons­plä­nen zu un­ter­wer­fen, konn­te ein Nein auf ein Nein erst in der nächs­ten Sen­dung, der nächs­ten Aus­ga­be oder mit der nächs­ten Auf­la­ge er­schei­nen. In den So­ci­al Me­dia ge­hen die Zwangs­pau­sen im Kon­flikt da­ge­gen ge­gen Null. W‑LAN und mo­bi­les In­ter­net er­mög­li­chen je­dem Nut­zer eine so­for­ti­ge Re­ak­ti­on in Echt­zeit – un­ab­hän­gig da­von, wo er sich ge­ra­de be­fin­det oder wie vie­le an­de­re gleich­zei­tig ihre Mei­nung äu­ßern. Hier kön­nen alle wü­tend durch­ein­an­der schimp­fen, ohne sich ge­gen­sei­tig zu un­ter­bre­chen.

Die Mei­nung der An­de­ren

Im Ge­gen­satz zum oft ver­nach­läs­sig­ten Fak­tor Zeit wird die Rol­le, die an­ony­me Äu­ße­run­gen für die Es­ka­la­ti­on ei­nes Kon­flikts mit ei­nem Un­ter­neh­men spie­len, viel­fach über­schätzt. Die meis­ten Er­klä­rungs­an­sät­ze spre­chen der Mög­lich­keit der So­ci­al-Me­dia-Nut­zer, aus ei­ner schüt­zen­den An­ony­mi­tät her­aus be­wusst be­son­ders aus­fal­lend zu wer­den, ei­nen ho­hen Stel­len­wert zu. Wäh­rend dies für art­ver­wand­te In­ter­net-Phä­no­me­ne wie Cy­ber­mob­bing oder Hate Speech durch­aus von gro­ßer Be­deu­tung ist, hal­ten aber nur we­ni­ge Nut­zer, die sich an ei­nem Shit­s­torm ge­gen ein Un­ter­neh­men be­tei­li­gen, ihre Iden­ti­tät ge­heim. Selbst Pseud­ony­me sind eher in der Min­der­heit: Oft grü­ßen vor den kras­ses­ten Be­lei­di­gun­gen der Klar­na­me und ein Foto des Ver­fas­sers. Das Ge­fühl, mit der wü­tend ge­äu­ßer­ten Kri­tik im Recht und Teil ei­nes brei­ten Kon­sens zu sein, ist of­fen­bar Schutz ge­nug und er­setzt hier die An­ony­mi­tät. Zwar sind Be­lei­di­gun­gen auch im In­ter­net straf­recht­lich re­le­vant. Je­doch ha­ben die Nut­zer un­ter sol­chen Um­stän­den kaum Kon­se­quen­zen für ihr Han­deln zu be­fürch­ten. So bie­tet ein sich an­bah­nen­der Shit­s­torm al­len Be­tei­lig­ten die Ge­le­gen­heit – im wahrs­ten, wenn auch nicht ei­gent­li­chen Wort­sinn – ein­fach ein­mal auf ge­sell­schaft­lich er­war­te­te Um­gangs­for­men und Ne­ti­quet­te-Re­ge­lun­gen ‘zu schei­ßen’ und völ­lig ent­hemmt drauf­los­zu­schimp­fen.

So­ci­al Me­dia als Es­ka­la­ti­ons­ka­ta­ly­sa­to­ren

Al­les in al­lem fun­gie­ren die So­ci­al Me­dia so­mit im Ernst­fall als Ka­ta­ly­sa­to­ren der Kon­flikt­eska­la­ti­on. Für die Un­ter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on ist eine sol­che Es­ka­la­ti­on des­halb be­son­ders bri­sant, weil sich der Streit dann zu­neh­mend auf der Be­zie­hungs­ebe­ne ab­spielt: Nicht mehr ein ein­zel­nes Pro­dukt oder eine be­stimm­te Dienst­leis­tung steht in der Kri­tik, son­dern das Un­ter­neh­men ins­ge­samt ist Ziel der An­grif­fe.

Und wenn der Shit­s­torm kommt?

Wie also mit die­sem Ri­si­ko um­ge­hen? Was ist die Ant­wort auf die Fra­ge: „Und wenn der Shit­s­torm kommt?“ Klar ist, dass sich On­line­kon­flik­te und auch de­ren Es­ka­la­ti­on nicht ver­hin­dern las­sen, so­fern aus­rei­chend viel Wut und Auf­merk­sam­keit auf Sei­ten der So­ci­al Me­dia-Nut­zer vor­han­den ist. Den­noch kön­nen Or­ga­ni­sa­tio­nen be­stimm­te Feh­ler ver­mei­den, mit de­nen sie selbst zu ei­ner Es­ka­la­ti­on bei­tra­gen wür­den. Ex­ter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on soll­te:

Nie­mals ge­äu­ßer­te Kri­tik als ir­rele­vant und/​oder halt­los ab­tun und den Kun­den si­gna­li­sie­ren, dass die­se im je­wei­li­gen So­ci­al-Me­dia-Ka­nal nicht er­wünscht ist.
Auf kei­nen Fall mit Zen­sur­ver­su­chen ei­nen Strei­sand-Ef­fekt pro­vo­zie­ren und so Wut und Auf­merk­sam­keit po­ten­zie­ren.

Denn sol­che Ver­hal­tens­wei­sen wi­der­spre­chen den Er­war­tun­gen der Nut­zer, dass ihre Bei­trä­ge be­ach­tet und ernst­ge­nom­men wer­den. Dies em­pört sehr wahr­schein­lich so­gar jene, die sich für das ur­sprüng­li­che Pro­blem über­haupt nicht in­ter­es­siert oder so­gar auf der Sei­te des Un­ter­neh­mens ge­stan­den hat­ten. Zu­dem soll­te ex­ter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on:

Nie­mals kon­fron­ta­tiv auf Be­lei­di­gun­gen ein­ge­hen oder gar selbst da­mit be­gin­nen.

Auf die­se Wei­se näm­lich ver­schiebt sich der Streit von ei­ner ur­sprüng­lich sach­li­chen Fra­ge auf je­den Fall auf das nächst­hö­he­re Es­ka­la­ti­ons­ni­veau. Dies macht ei­ner­seits eine zü­gi­ge Bei­le­gung des Kon­flikts zu­neh­mend un­wahr­schein­li­cher und sorgt an­de­rer­seits für schwer­wie­gen­de­re Image­schä­den.

Zum Wei­ter­le­sen

Bern­hard Pörk­sen u. Han­ne De­tel: Der ent­fes­sel­te Skan­dal. Das Ende der Kon­trol­le im di­gi­ta­len Zeit­al­ter. Köln: Ha­lem 2012.

Fritz B. Si­mon: Ein­füh­rung in die Sys­tem­theo­rie des Kon­flikts. Hei­del­berg: Auer 2015.

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