MODUL 1: Kommunikation online
1. Case → 2. Insight → 3. Case → 4. Insight → 5. Deep Lecture
Eine schöne Bescherung
von Simon Noack und Stephan Frühwirt
Es war bereits kurz vor Mitternacht. Das Herbstlaub der knorrigen Eiche vor dem Haus rauschte. Harsch drückte der Wind gegen die Scheiben und ließ das dünne Glas der alten Doppelkastenfenster bedrohlich knacken. Ich fröstelte. In meiner geliebten, aber fast unbeheizbaren Altbauwohnung war es schon den ganzen Abend ungemütlich kühl gewesen.
Um mich mit einer heißen Dusche aufzuwärmen, tapste ich müde Richtung Bade-
zimmer. Durch das Flurfenster malte der Schein einer Straßenlaterne eine Bühne an die Wand, auf der die Schatten der Zweige skurrile Tänze aufführten.
Ich tastete nach dem Lichtschalter im Bad. Die Energiesparlampe flackerte träge auf und gewann nur allmählich an Leuchtkraft. Im Halbdunkel legte ich meine Kleider ab, stellte den iPod in der Sound-Dockingstation auf Shuffle und drehte die Lautstärke hoch. Heißes Wasser, meine Lieblingsbands und sonst weiter nichts. Genau das brauchte ich jetzt.
Es sollte mir zum Verhängnis werden.
Ich stand seit sechs Minuten und vierunddreißig Sekunden unter der heißen Dusche – genau die Länge der beiden Songs, die gerade abgespielt worden waren –, als es passierte. Mit einshampooniertem Haar, nackt und verletzlich konnte ich dem Angriff nichts entgegen setzen. Zuerst ertönte ein eindringliches Oohooohoooohooh, dann setzten E‑Gitarre, Bass und Synthesizer ein. Für einen Moment war ich wie gelähmt. Träumte ich? War ich verrückt geworden? Dann stieg Panik auf. Pitschnass riss ich den Duschvorhang zurück und griff nach meinem iPod. U2! Songs of Innocence! Ein Album, das ich noch nie gehört hatte. Wie zum Teufel war es auf meinen iPod gelangt?
In dieser Nacht schlief ich kaum. Bonos Stimme hallte wie ein tausendfaches Echo durch meinen Kopf und mein ganzer Körper zitterte. Ich suchte nach Erklärungen und stellte mir alles Mögliche vor. Jemand musste sich Zugang zu meiner Mediathek verschafft haben, musste dort gegen meinen Willen Musik von U2 gespeichert haben. Dieser jemand war in meine Privatsphäre eingedrungen, vielleicht sogar in meine Wohnung. Oder er hatte sich in meinen Computer gehackt. Erst im Morgengrauen schlief ich erschöpft ein.
Am nächsten Tag setzte ich mich unmittelbar nach dem Aufstehen an den PC. Vielleicht gab es im Netz eine Erklärung? Was ich sah, war kaum zu glauben. Ich war nicht das einzige Opfer. Außer mir hatten noch über 500 Millionen weitere Apple-Nutzer das neue U2-Album erhalten – als vermeintlich großzügiges Gratisgeschenk in Form eines automatischen Downloads. Doch die Zahl derer, die dafür dankbar waren, hielt sich offenbar in Grenzen.
Vor allem, weil es sich nicht so einfach verstecken ließ wie die ungeliebten Wollsocken von Oma, die es jedes Jahr zu Weihnachten gibt. Oder einfach umtauschen wie den drei Nummern zu großen Pullover, den Mutti „so fesch“ fand, dass sie ihn unbedingt mitbringen musste. Danke Apple! Danke U2! Jetzt hätte ich gerne die 72MB Speicherplatz in meiner Mediathek zurück – und nicht nur eine halbherzige Entschuldigung von Bono.