MODUL 4: Kritik in Vertrauen verwandeln
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Mit Online-Kritik
zum Imagegewinn
Kritik in den Social Media erscheint vielen Unternehmen als Problem. Tatsächlich ist sie aber ein wichtiger Teil erfolgreicher Kundenkommunikation. Gehen die Verantwortlichen mit den öffentlichen Beschwerden kompetent um, lassen sich diese in positive Impulse fürs Corporate Image verwandeln.
von Anna-Lisa Menck und Stephan Frühwirt
Von Social Media Kanälen erhoffen sich Unternehmen, in einen Dialog mit ihren Kunden zu treten. Doch diesen bieten die Plattformen nicht nur Raum für Liebesbekundungen, Nachfragen und Gewinnspielteilnahmen. Häufig nutzen sie sie auch, um Kritik zu äußern und um Ärger und Enttäuschung Luft zu machen. Vor dieser öffentlichen Kritik haben viele Firmen Angst. Schnell geht das Gespenst des Shitstorms um, wenn auf Social Media Kanälen Beschwerden auftauchen. Dabei ist Kritik zunächst einmal etwas sehr Gutes. Denn sie ist ein Zeichen für eine aktive Community und zeigt: Die Kunden suchen den Kontakt, wenn sie enttäuscht oder wütend sind, anstatt sich einfach stillschweigend vom Unternehmen abzuwenden. Kritik sollte deshalb auch nicht in erster Linie als Problem, sondern als wichtiger Teil eines erfolgreichen Kundendialogs verstanden werden.
Kein anderer Kommunikationskanal bietet Kunden die Möglichkeit, mit so wenig Aufwand Kritik an Unternehmen zu adressieren wie Social Media-Accounts. Dementsprechend zeichnen diese Kanäle der Firmen sensibel wie ein Seismograph Erschütterungen auf. Sie zeigen unmittelbar, wo etwas nicht rund läuft, womit die Kunden unzufrieden sind und was sie sich stattdessen wünschen würden. Das Feedback lässt sich als niedrigschwelliger Problementdeckungsmechanismus nutzen und kann so dazu beitragen, Fehler zu erkennen und einen Service oder ein Produkt zu optimieren.
Aber schadet öffentliche Kritik nicht dem Corporate Image? Nicht, wenn die Verantwortlichen zügig, gewitzt und mit viel Fingerspitzengefühl auf sie reagieren. Ganz im Gegenteil können sich in den Social Media geäußerte Beschwerden dann mitunter sogar als – im doppelten Wortsinn – günstige Gelegenheit entpuppen, das Kundenvertrauen zu stärken und so das Image des Unternehmens zu verbessern. Denn die Tatsache, dass die Kritik öffentlich ist, heißt auch, dass alle mitlesen können, wenn das Unternehmen erfolgreich damit umgeht.
Jede Kritik ist gerechtfertigt
Der Schlüssel dazu, Nutzen aus der öffentlich geäußerten Kritik zu ziehen, statt Schaden zu nehmen, liegt in einer bestimmten Rezeptionshaltung ihr gegenüber und einer adäquaten Reaktion auf Beschwerden. Mit Kritik umzugehen, ist immer eine Herausforderung. Wollen Unternehmen diese erfolgreich meistern, ist es wichtig, zunächst einmal zu verstehen, dass jede Kritik gerechtfertigt ist – und zwar aus der Perspektive des Kritikers. Das bedeutet nicht etwa, dass es keine sachlich falschen Beschwerden oder Beschuldigungen gäbe. Manche Vorwürfe sind aus Unternehmenssicht möglicherweise sogar vollkommen haltlos. Aus der Perspektive des Kritikers aber gibt es stets einen, wie auch immer gearteten, guten Grund für seine Beschwerde. In Bezug auf die Wahrnehmung von Problemen kann es zu sehr divergierenden Einschätzungen kommen, weil jeder Kritik eine subjektive Beschreibung, Erklärung und Bewertung der Situation zugrunde liegt. Jeder beobachtet anders – auch und gerade dann, wenn er sich ärgert. Dieses grundlegende Wissen hilft Unternehmen, stets sensibel für Kritik zu bleiben.
Mit dieser subjektiven, sehr selektiven Sicht auf die Welt beschäftigt sich in der Philosophie der erkenntnistheoretische Konstruktivismus. Betrachtet man das Problem durch die Brille dieser Theorie, handelt es sich bei der Kritik nicht um „Fakten“ im eigentlichen Sinne. Damit soll jedoch keineswegs behauptet werden, die Nutzer zögen sich ihre Beschwerdegründe aus langen Nasen. Vielmehr gilt – und das für jede Form der Wahrnehmung: Die Landkarte ist nicht das Gebiet. Diese Metapher beschreibt die Grundannahme des Konstruktivismus. Sie meint, dass wir, je nach Blickwinkel, immer nur einen ganz bestimmten, kleinen Ausschnitt der unendlich komplexen Wirklichkeit wahrnehmen oder sprachlich abbilden können — wie eine Landkarte ein Gebiet. Ist jene sorgfältig angefertigt, hat sie zwar strukturell Ähnlichkeit mit der eigentlichen Landschaft und erfüllt ihren Zweck, bleibt aber dennoch nur ein Abbild. In Situationen des Ein- oder Widerspruchs kommt diese Art der Wirklichkeitskonstruktion in besonderem Maße zum Tragen. Denn obwohl eine Partei das Handeln oder Verhalten der jeweils anderen kritisiert und sie dann gegebenenfalls darüber streiten, was sich warum wie abgespielt hat und was nun richtig oder falsch ist, bezieht sich keine der Parteien dabei auf dieselben „Fakten“: Sie nehmen Verschiedenes wahr, das sie unterschiedlich beschreiben, erklären und bewerten. So suchen sie oft auf zwei unterschiedlichen Landkarten nach einem Ausweg, nur um sich dabei immer weiter zu verlaufen. Das Explosive daran: Weder dieser eigenen Konstruktion, noch der Option, die Dinge anders zu sehen, sind sich die Interaktionsteilnehmer in der Regel bewusst.
Sensibel und flexibel sein
Sensibilität ist vor allem deshalb wichtig, weil es keine pauschal richtigen Reaktionen auf Kritik gibt. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen Problemlagen, der Kontext, die Motive und die persönliche Situation des Kunden, aber auch die Ressourcen des Unternehmens im konkreten Fall. Zwar lassen sich einige wichtige basale Empfehlungen darüber aussprechen, was es zu vermeiden gilt, wenn man nicht durch eigene Fehler zu einer Eskalation von Konflikten beitragen möchte: etwa ein konfrontativer Gegenangriff, leere Versprechen zur vermeintlichen Beschwichtigung, das Löschen öffentlicher Beschwerden oder der Versuch, sie einfach auszusitzen. Aber abgesehen von dem, was Unternehmen nicht tun sollten, muss die Entscheidung für eine bestimmte Reaktion, für den jeweiligen Umgangmit Kritik stets situationsspezifisch getroffen werden. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Denn so bunt die Palette potenzieller Konfliktfälle ist, so vielfältig sind auch die darauf bezogenen Verhaltensmöglichkeiten.
Beispielstrategien für eine erfolgversprechende Reaktion
Mit Humor genommen
So kann es in bestimmten Fällen sinnvoll sein, auf Kritik besonders schlagfertig zu reagieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass die persönliche Betroffenheit des Kunden nicht besonders hoch ist. In diesem Fall beschwert er sich nicht, weil er – aus seiner Sicht – durch die Schuld des Unternehmens zum Beispiel ernsthaft Schaden genommen, viel Geld verloren oder eine einmalige Chance verpasst hat.
Für eine im wahrsten Sinne des Wortes gewitzte Reaktion auf solche Kritik bieten sich zwei Möglichkeiten besonders an: Zum einen können die Social Media Mitarbeiter die Sicht des kritisierenden Kunden überspitzt aufgreifen und ironisch bejahen. Wie das aussehen kann, zeigt zum Beispiel ein Blick auf die Facebook-Seite von Die Welt.
Post: Die Welt, Quelle
Auch die Berliner Verkehrsbetriebe etwa setzen im Umgang mit Kritik im Rahmen ihrer Twitter-Kampagne „Weil wir Dich lieben” auf (Selbst-)Ironie und sind damit überaus erfolgreich: Zunächst lachte die Mehrheit der Nutzer noch über die BVG, mittlerweile lachen alle mit ihr.
@pavel Wenn dort BVG stünde, würde man instinktiv vermuten, dass sich die App mit Verspätung öffnet.
— Weil wir dich lieben (@BVG_Kampagne) 2. Februar 2016
Selbst bei Angriffen unter die Gürtellinie, die provozieren, diskriminieren oder hetzen, kann die Strategie, ironisch oder mitunter sogar sarkastisch zu reagieren, sinnvoll sein.
Zum anderen kann es auch von Erfolg gekrönt sein zurückzufrotzeln und so beispielsweise implizite Forderungen nach einer öffentlichen Rechtfertigung mit einem augenzwinkernden Nein zurückzuweisen. Neben der BVG hatte mit einer solchen Reaktion auch Kentucky Fried Chicken die Lacher der anderen Nutzer auf seiner Seite.
Post: KFC, Quelle
Humor statt Verärgerung, Ironie statt Konfrontation: Eine solche Strategie bietet sich für die Kommunikation über Social Media an, weil sie es anderen, auch unbeteiligten Nutzern leicht macht, sich selbst auf die Seite des Unternehmens stellen und statt der Sache den Unterhaltungswert des Dialogs in den Vordergrund zu rücken. Witze sind in diesem Fall anschlussfähiger als ernste Versuche der Rechtfertigung. Eben daraus ergibt sich auch der hohe Buzz-Wert solcher Interaktionen: Die Daumen und Herzen anderer Nutzer erobern besonders geschickte Entgegnungen dieser Art oft im Sturm. Aus einem drohenden Shitstorm wird so mitunter eine virale Social-Media-Marketing-Kampagne – und das vollkommen kostenlos. Mit etwas Glück erreicht die externe Social Media-Kommunikation auf diese Weise sogar das Optimum: dass am Ende gar keiner weint, sondern alle lachen.
Wenn es ernst wird
Einen anderen Weg sollten Verantwortliche wählen, wenn Kunden persönlich betroffen und so verärgert, enttäuscht oder verzweifelt sind, dass sie wahrscheinlich keinen Spaß mehr verstehen. In solchen Fällen ist Empathie von enormer Wichtigkeit. Externe Social Media Kommunikation sollte also unbedingt auch in der Lage sein, sich in die Kunden hineinzuversetzen und eine Ahnung davon zu entwickeln, wie diese die Situation erleben.
Wollen Social Media Mitarbeiter mit dem Kunden in einen erfolgversprechenden Dialog treten ist es wichtig, dass sie ihm Wertschätzung für seine Kritik entgegenbringen. Sie sollten deutlich machen, dass sie die Beschwerde ernst nehmen und seine Sicht auf das Problem besser verstehen möchten. Unabhängig von ihrer eigenen Perspektive sollten sie dafür zunächst eine möglichst allparteiliche Position zu dem Sachverhalt einnehmen. Hierbei hilft ihnen die Kommunikations-Technik des aktiven Zuhörens: Um sicherzugehen, dass sie den Kunden richtig verstehen, können sie seine Kritikpunkte in eigenen Worten noch einmal zusammenfassen, sie also paraphrasieren, und durch zugewandtes, einfühlsames Nachfragen versuchen, seine Lage, Emotionen und Bedürfnisse nachzuvollziehen. Gelingt es so, ausreichend Vertrauen für einen Dialog zu schaffen, sollten die Mitarbeiter die Problembearbeitung dann schnellstmöglich in einen nicht öffentlichen Kommunikationskanal umleiten. Per Mail, Chat oder Telefon kann die Beschwerde dann detailliert und datenschutzgerecht aufgenommen und bestenfalls gelöst werden.
Ein solcher wertschätzender und empathischer Umgang mit Kundenkritik stärkt auch bei Beobachtern der Situation das Vertrauen in die Kompetenz des Unternehmens, mit Beschwerden umzugehen. So kann auch diese Strategie zu einem positiven Image beitragen.
Post: 1&1, Quelle
Ob mit Schlagfertigkeit oder Feingefühl – glückt eine erfolgreiche Umsetzung, lassen sich Beschwerden mit beiden Strategien nicht nur intern als Problementdeckungsmechanismus zur Service- oder Produktverbesserung nutzen. Auch ihren Ruf können Unternehmen durch einen kompetenten Umgang mit Kritik verbessern. Man denke in diesem Zusammenhang noch einmal an die Deutsche Bahn, der die Leser des Liebesaus-Threads so viel Humor und Menschlichkeit gar nicht zugetraut hätten…
Das Lesen der Anderen
Dem Mantra zum Trotz, dass die Kritik online je nach Situation und Kundenbetroffenheit eine sehr spezifische, individuelle Reaktion erfordert, lässt sich das Kommunikationsziel, das mit Kritik in den Social Media konfrontierte Unternehmen anstreben sollten, konkret benennen.
Es ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, weshalb ein Teil der unzufriedenen, verärgerten oder enttäuschten Kunden überhaupt lieber die sozialen Netzwerke nutzt als die Telefonhotline des Kundenservices anzurufen oder eine E‑Mail zu schreiben. Der Grund dafür ist, neben dem vergleichsweise geringeren Zeitaufwand, den ein Post oder Tweet sie kostet – wohl kaum jemand mag Warteschleifenmusik oder formuliert gerne umständliche Mailanfragen – vor allem die Öffentlichkeit, in der sich Social Media Kommunikation abspielt. Mit dieser ist die sehr motivierende Erwartung verbunden, tatsächlich wahrgenommen und gehört zu werden. Denn Kritik online lesen nicht nur die Mitarbeiter des Unternehmens – tausende andere Kunden und Nutzer lesen mit.
Bildausschnitt aus dem Beitrag: Smartphones sorgen für mehr Kommunikation,
Lizenz Video: CC BY 3.0
Selbst wenn die erhoffte Reaktion der Verantwortlichen ausbleibt, besteht so noch eine hohe Chance, dass die Beschwerde trotzdem nicht ins Leere läuft. Mit anderen Worten: Je mehr Nutzer erreicht werden, die sich mit der Erfahrung des Kritikers oder auch nur mit dessen Ärger über eine als falsch empfundene Reaktion identifizieren könnten, desto größer wird die Bühne für dessen Anliegen. Und das gilt unabhängig davon, mit welchem Problem er aus welchen Gründen dieses Rampenlicht sucht.
Was bedeutet das für die Unternehmen? Auch sie können diese Öffentlichkeit nutzen, wenn sie verstehen, dass ihre Reaktion gleichermaßen von ebenso vielen weiteren Nutzern wahrgenommen wird und einen wichtigen Einflussfaktor auf deren Meinungen in Bezug auf das Unternehmen darstellt. So werden die Lösung eines konkreten Problems oder der schlagfertige Konter auf ungerechtfertigte Kritik ergänzt um ein enormes Potenzial zur Stärkung des Corporate Images: Die Möglichkeit, allen anderen zu demonstrieren, dass das Unternehmen fähig ist, mit Kritik erfolgreich umzugehen und die Kommunikation mit seinen Kunden aufrecht zu erhalten, ohne eine Konflikteskalation zu provozieren. Damit zeigt sich das Unternehmen anpassungsfähig und flexibel im Fall von Schwierigkeiten sowie kompetent hinsichtlich progressiver Kundenkommunikation. Es beweist Resilienz, das heißt, die Fähigkeit, auch mit den vielen Herausforderungen in einer sich ändernden Umwelt zu bestehen.
Freiraum für Erfolg
Diesen Nutzen können Unternehmen nur dann aus der Kritik in Social Media ziehen, wenn ihre Social Media-Teams zügig und adäquat auf Kritik reagieren dürfen. Sie müssen in ausreichendem Umfang selbst Verantwortung für ihre Beiträge übernehmen und vom Unternehmen mit dem dafür nötigen Freiraum und Vertrauen ausgestattet sein. Zugleich ist damit aber auch ein hoher Anspruch an die Mitarbeiter verbunden. Diese müssen entsprechend qualifiziert sein und sich angesichts des permanenter Veränderung unterworfenen Kommunikationsumfeldes laufend weiterentwickeln. Die Betreuung der Social Media-Kanäle dem jeweiligen Praktikanten zu überlassen, ist also kaum sinnvoll.
Hätte der Mitarbeiter der Deutschen Bahn seine geschickte Antwort auf die Beschwerde erst mit seinem Vorgesetzten absprechen müssen, wären vielleicht in der Zwischenzeit andere enttäuschte Fahrgäste auf den Zug der Kritikerin aufgesprungen. Und der wiederum wäre für die Deutsche Bahn eventuell schnell in Richtung Konflikteskalation abgefahren. Mit der gewitzten Reaktion nach nur wenigen Minuten gelang es dem Verantwortlichen jedoch, die Enttäuschung der Kundin aufzufangen und ihre Kritik in positive Impulse zu verwandeln.
Problemlösungskompetenz zeigen
Auf Kritik in den Social Media gibt es für Unternehmen keine pauschal richtige Reaktion. Festhalten lässt sich jedoch zumindest soviel: Kritik nutzen heißt, die Kommunikation mit den Kunden aufrecht zu erhalten, ohne eine Eskalation des drohenden oder beginnenden Konflikts zu provozieren und je nach Situation und Betroffenheit des Kritikers möglichst zeitnah zu entscheiden, welche Strategie in diesem spezifischen Fall zur Problemlösung führen kann. Kann das Unternehmen so zeigen, dass es in der Lage ist, mit öffentlicher Kritik kompetent umzugehen, nehmen das vor allem auch andere Kunden wahr. In diesem Fall helfen Beschwerden nicht nur, Fehler frühzeitig zu erkennen und intern an ihnen zu arbeiten, sondern zudem das Corporate Image und das Markenvertrauen der Kunden zu stärken. Damit das gelingen kann, sollte die externe Social Media-Kommunikation:
Zum Weiterlesen
Edgar Lapp: Linguistik der Ironie. Tübingen: Narr 1992.
Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Jungfermann 2005.
Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Auer 2008.